Henkel, stark gekühlt

TEMPERATUREN Der scheidende BDI-Präsident als Hobby-Soziologe

Kennen Sie einen Armen?", hat der ehemalige BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel scheinbar ratlos in einem Zeitungsinterview seine Gesprächspartner gefragt. Er will die Frage jedem stellen, bis er eine Antwort bekommt. Vielleicht hofft er auf ein verlässliches Nein. Offensichtlich ist er lange nicht mehr oder überhaupt noch nie in einem Pennymarkt gewesen und hat Leute beobachtet, die beim Einkauf ihre Groschen zählen. Beispielsweise jener alte Mann, der sich neulich in der Schlange vor mir ein kleines Stück abgepacktes Fleisch und einen Liter Milch aufs Transportband gestellt hatte und freundlich lächelnd zusah, wie die Verkäuferin das Fleisch beiseite legte, weil das Geld nur für die Milch reichte. Was hätte der in seiner stoischen Würde Henkel geantwortet? Armut ist ein großer Glanz von innen, sagt der Dichter Rilke? Olaf Henkel dagegen denkt womöglich an solche Armen, wie sie einst so dramatisch in Büchern wie Oliver Twist von Charles Dickens geschildert wurden. Da kriegte meist zu Weihnachten auch der hartherzigste Kapitalist seinen Gefühlsanfall, wenn ihn endlich unterm Tannenbaum die Rührung packte bei soviel kindlichem Elend.

Aber der einstige Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie mag gar nicht Kapitalist genannt werden, weil "in unserem Land heißt die Bedeutung von Kapitalist Kälte, Ellbogen und was weiß ich alles." Warum fürchtet er plötzlich den Kältestrom, wo sich doch die verbalen Kühlaggregate aller politischen Richtungen sonst gar nicht genug daran tun können, irgendwelche Wärmestuben zu entdecken und deren Existenz zu geißeln? Wärme scheint für jene Adepten polaren Klimas ein Äußerstes an Verworfenheit und Perspektivlosigkeit zu sein. Herzenswärme? In den Orkus mit solchen Sentimentalitäten! Die soziale Temperatur des Landes ist auf Dauerfrost gestellt, aufwärmen kann man sich in Mallorca.

Eines muss man Henkel allerdings lassen, seine kühle Logik ist von erfrischender Direktheit. Sie verlässt konsequent jenen Raum der Gefühle, in dem beispielsweise Platz war für Geschichten aus der Nachkriegszeit. Kalter Kaffee! Wem nutzt es, wenn ich mich und andere daran erinnere, wie im Winter 1947 Zäune und Bäume verfeuert wurden in Berlin, wie wir als Kinder am Ablaufberg des Rangierbahnhofs Schöneweide frierend standen, um Briketts zu sammeln, die von den Güterwagen fielen? Wärme galt in diesen elenden Zeiten als Positivum. Solche Erinnerungen leistet sich ein BDI-Präsident nur in seinem Buch Die Macht der Freiheit, das kürzlich erschienen ist. Eine gesellschaftliche Schizophrenie dessen, der sich mitfühlend erinnert, und dessen, der als Macher schneidend den Mangel an wirtschaftlichem Sachverstand in Deutschland beklagt.

Natürlich muss Henkel auch wieder jene Klischees über die Ostdeutschen - pardon - aufwärmen, wonach sie die Gleichheit der Freiheit vorzögen. Abgesehen davon, dass es wenig Grund gibt, die beiden Wertbegriffe der Aufklärung gegeneinander zu stellen, stimmt die ganze Rechnung nicht, die einst das Allensbacher Meinungsforschungsinstitut in die Welt setzte. Gerade hat das Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin (WZB) eine Analyse veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass die Zufriedenheit der Ostdeutschen mit der Demokratie vor allem davon abhängt, ob die Bürger elementare Freiheitsrechte als gewährleistet ansehen. Ähnlich wie in der Ex-DDR wird die Sache auch in Polen, Tschechien und Slowenien betrachtet. In der WBZ-Studie heißt es: "In Ostdeutschland ist es vor allem die Verwirklichung demokratischer Bürgerrechte wie der Meinungsfreiheit, die die Zufriedenheit mit den demokratischen Institutionen erhöht. Die wirtschaftliche Situation der Befragten ist von weit geringerer Bedeutung."

Hans-Olaf Henkel scheint die Begriffe gegeneinander ausspielen zu wollen. Alles eine Frage der Definition. Als Hauptgegner des Neoliberalismus oder der Freiheit, wie er es wohl nennen würde, hat er kurioserweise Vivien Forrester und Gräfin Dönhoff entdeckt. Die Gesellschaft mache überhaupt zuviel in Gleichheit. Das werden diejenigen westdeutschen Arbeiterkinder, denen solche Gleichheit in den siebziger und achtziger Jahren den Universitätsbesuch ermöglichte, mit Interesse lesen. Von den sogenannten Studenten der Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten im Osten zu schweigen. Hoffnungslos altmodisch offenbar, wer Bildungschancengleichheit gut findet. Wir singen lieber Brechts Ballade "Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm." Schöne Melodie.

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden