Im Herbst fallen die Blätter von den Bäumen. Und weil es Mode ist, den Gartenboden von ihnen zu befreien, greift der angepasste Mitteleuropäer zu Rechen, Schippe und Schubkarre, um den reichen Segen auf dem Komposthaufen zu entsorgen. Also auch ich, altersgemäß von den Jungbürgern "Komposti" genannt, widme mich dieser gesunden Aufgabe unter dem grauen Berliner Nieselhimmel. Im Nacken den Ruf der Gattin "Die Jungs sollen auch mithelfen!" Die Jungs denken keine Sekunde daran, und es soll mir recht sein. Es gibt schließlich keine schönere und einsamere Arbeit, als Blätter zusammenzuharken. Diese abgehangenen Gewächse in den Farben der Ofenasche lassen uns zwar schweißtreibend, aber doch Nachdenken stiftend unser Tun verrichten. Nach der fünfzigsten Schubkarre bietet sich schon eine schöne erddunkle Fläche dar. Die Nachbarn können sich nun nicht mehr das Maul zerreden über die Unordnung im Gartenreich nebenan.
Natürlich kriegt das Ganze in diesem Jahr seine umweltschonende Bedeutung durch den Kampf gegen die Miniermotte, diesen zerstörerischen Flegel. Der hatte es sich schon in den Kastanienblättern gemütlich gemacht, um bequem zu überwintern. Der alte Baum hatte das Laub bereits im August abgeschmissen, es lag braun und verrottet im Rasen und harrte des Einsammelns. "Ihr könnt euch ein paar müde Euros verdienen, wenn ihr mir beim Aussortieren des Miniermottenzuhauses aus den übrigen Naturalien helft". - "Keen Bock." Als ich alle befallenen Blätter auf einen Haufen entsorgt hatte, legte ich eine riesige Plastikplane über das Ganze, befestigte sie mit Ziegelsteinen an allen Seiten. Das dürfte ein trauriges Auferstehen der Miniermottenbrut im nächsten Frühjahr werden und unseren 100 Jahre alten Kastanienbaum vielleicht retten.
Kaum gedacht und erhofft, schreckt die Tagespresse mit dem Hinweis auf, in Brandenburg sei der asiatische Laubholzbockkäfer gesichtet worden, gegen den die Miniermotte ziemlich mini zu sein scheint. Denn dieser Zeitgenosse frisst nicht nur die Blätter, sondern den gesamten Baum, und zwar nicht nur Kastanien. Schade, dass unsere Vorgängerin in Haus und Garten noch nichts von diesem schrecklichen Insekt wusste, denn sie hätte am liebsten alle herbstlichen Laubspender fällen lassen. Zu spät, der Laubholzbockkäfer (Anoplophora glabripennis) trieb sich vor 20 Jahren noch in Asien herum. Vermutlich in der späteren Wüste Gobi. Aber sei´s drum, wir machen die Mode des Bodenablaubens in konsequenter Feigheit mit.
So wie alle Männer in diesem Herbst so manche Mode mitmachen, zum Beispiel haferschleimfarbene Oberhemden mit ebenso hässlichen Krawatten zu tragen, bedeckt von holzfarbenen Anzügen, an denen nur noch das SED-Abzeichen fehlt. So treten sie rudelweise im Fernsehen auf wie die Miniermotte. Unterbrochen wird dieses Einerlei nur durch kleinkarierte Hemden, die uns dunkel an Campingferien in den Sechzigern erinnern. Aber da müssen wir durch. Das Diktat der Herrenmode erlebte ich im Herbst des vergangenen Jahres, als eine einstige Kommilitonin nahe Braunschweig ihren 60. Geburtstag feierte. Zum Nachmittagskaffee waren alle männlichen Gäste in einer Art Räuberzivil erschienen mit Jeans, Jägerhemden und Lederjacken. Da fiel ich mit meinem Sakko schon irgendwie auf beziehungsweise ab. Wie groß war meine Überraschung, als ich krawattenlos im selben Jackett abends auf die nämliche Runde stieß, die diesmal in nahtloser Konvention im Abendanzug wie zum Bundespresseball erschien. Beide Male war ich außen vor. Kleider machen Leute, oder auch nicht. Meine Mutter, die im Mädchenpensionat Bad Harzburg Mitte der zwanziger Jahre alle spontanen Verhaltensweisen abtrainiert bekam, hätte mir wahrscheinlich die entscheidenden Tipps bis hin zu Messerbänkchen und ähnlichem geben können. Wir dagegen versuchen zu verstehen, welche Mode gerade welchen Zwang ausübt. Ob es beispielsweise opportun ist, als Fernsehansagerinnen nur noch lispelnde Menschen einzustellen, oder ob als sensible Charakterdarsteller bei Bühne und Funk nur noch Fettwänste gefragt sind. Warum plötzlich alle Medienmenschen, die etwas auf sich halten, das schöne Wort Tumult auf der ersten Silbe betonen und Interim auf der letzten. Ist dieser Schmerz für unsere Ohren gewollt im Descartschen Sinne: Ich verhunze, also bin ich? Oder ist es nur die ganz normale Schluderei? Die Normen setzt das Leben, das Interpretation verlangt. Oder ist alles nur dem Zufall überlassen, dem wir als Opfer Marxscher Theorien die Notwendigkeit hinzusetzen? Fragen, die uns beim Laubsammeln befallen können, als seien sie vom Baum der Erkenntnis gefallen. Weshalb man bei dieser ebenso erfrischenden wie Zeit fressenden Tätigkeit wirklich allein sein muss, als leicht gekrümmte Brücke zwischen Leben und Vergehen im milden Novemberdämmer.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.