Heroismus macht einsam

MEDIENTAGEBUCH Aviatricen

Fliegen ist Männersache, war auch in der frühen Sowjetunion die gängige Parole. Gleichzeitig hieß es jedoch: "Alle in die Lüfte!" In den dreißiger Jahren, den Zeiten der blutigen politischen Säuberungen, entdeckte Stalin die Luftfahrt als Höhepunkt der Modernisierungskampagne. Regine Kühn und Eduard Schreiber haben für ihren Film Aviatricen über sowjetische Pilotinnen und Fallschirmspringerinnen Moskauer Archive durchforscht und Gespräche mit Überlebenden geführt. Aus dieser Komposition entstand eine Dokumentation, die den Zwiespalt zwischen Enthusiasmus und dessen Einsamkeit in der Masse demonstriert. Der berühmte russische Regisseur Dsiga Wertow, der als Avangardist begann, lieferte 1938 mit seinem Dokumentarfilm Drei Heldinnen einen anschaulichen Beweis für diese gesellschaftliche Dichotomie. Im September jenes Jahres starteten drei Frauen zu einem Langstreckenrekordflug in den Fernen Osten. Tagelang waren Valentina Krisodubowa, Galina Ossipenko und Marina Waskowain den Weiten Sibiriens verschollen. Das Funkgerät hatte schon 150 Kilometer hinter Moskau nicht mehr funktioniert, Motor und Tragflächen vereisten. Über 50 Flugzeuge wurden ausgeschickt, die Verschollenen zu suchen. Nach neun Tagen fand man sie notgelandet in einem Sumpfgebiet. Wertow zeigt, wie man ein Volk zum Taumeln bringt. In der Transsibirischen Eisenbahn, einem buchstäblichen Triumphzug, rollen die drei nach Moskau. In Chabarowsk gibt es die erste große Kundgebung, auf der Krisodubowa vor Hunderttausenden Stalin hymnisch preist und den großen Führer hochleben lässt. "Unser Flugzeug ist voll der wunderbarsten Technik", schwärmt die gerade noch Davongekommene. "Ruhm den heldenhaften Fliegerinnen, die Stalins Auftrag ehrenhaft erfüllten", lautet die Parole in der Hauptstadt. Man macht sie zu den ersten Heldinnen der Sowjetunion . Fünfzig Jahre später werden in der Taiga zwei Flugzeuge gefunden, die bei der Suche nach den Verschollenen abgestürzt waren. Von ihnen war nie die Rede. Schreiber und Kühn fragen Margarita Razenskaja, die 1939 den Flugweltrekord der Deutschen Hanna Reitsch abnahm, nach dem Sinn solcher Unternehmungen. "Man liebte die Ruhmsucht. Der großen Worte wegen." Ob man darüber gesprochen habe, dass der Flug der drei mit einer Katastrophe endete. "Nein." Es sei darum gegangen, weiter, höher und schneller zu fliegen. Als Razenskaja sich an der Fliegerschule bewarb, wurden ein Prozent Frauen aufgenommen. Sie war dabei. In einem Lied hieß es: "Genossinnen, Schwestern, Freundinnen, wer ist auf der Welt glücklicher als wir. Wir fliegen in den blauen Himmel. Und hell leuchten die Orden auf der Brust von Frauen der kühnen Art."

Der diese Woche im MDR gezeigte Film gehört zu vier weiteren von Regine Kühn und Eudard Schreiber über die Topografie der Macht in der Sowjetunion. Sie berichten über die Frauen der Kremlherrscher, über die Begräbnisrituale für führende Funktionäre, über den jüdischen Emigranten und Bauhäusler Pilipp Tolziner, über Psychoanalyse in der UdSSR und über die Pilotinnen. So entstand ein Sittenbild des Aufstiegs und Niedergangs der Sowjetunion. Der im Auftrag von MDR und Arte gedrehte Film Aviatricen macht schon in seinem Titel den Zusammenhang von Fliegen und Zirkusatmosphäre deutlich. Fahnen mit Stalins Porträt hingen an den Maschinen, die Frauen flogen Loopings und Drehungen, Fallschirmspringer verdunkelten den Himmel wie ein Herbstvogelschwarm. Ganz Moskau zog nach Tuschino, wo die Luftabenteuer stattfanden. Die Frauen sprangen, in Pelze verpackt, aus 8.000 Metern Höhe, ohne Sauerstoffmasken, die Gesichter mit Gänsefett eingerieben. Sie landeten zum Ruhme Stalins auf Kartoffelfeldern und in Reisighaufen. Sie wurden als Idole gefeiert, zu Banketten und Festen eingeladen. "Es gab im Vorkriegsmoskau kein Restaurant, in dem wir nicht waren", meint die Springerin Galina Pissetzkaja. Wie sie sich dabei gefühlt habe. "Manchmal war es mir peinlich."

Der Film zeigt nüchtern und weitgehend ohne Kommentierung eine Zeitaufnahme der dreißiger Jahre, als in der Sowjetunion eine starke Aufbruchsstimmung herrschte, begleitet von einer Pathosformel der inneren Überzeugung, dass man alles erreichen könne. Diese Entwicklung endete später in der Raumfahrt, von der eine der beteiligten Frauen im Film meint: "Wir waren die ersten im Kosmos. Es schien, dass das Leben sich verändern würde, dass es schöner und reicher würde." Dieser Fortschrittsglaube ohne Bodenhaftung führte bekanntlich zur Bruchlandung. "Ich habe niemanden. Keiner weiß, dass ich so ein tapferer, verrückter Mensch bin", sagt eine der alten Fallschirmspringerinnen in ihrer Moskauer Wohnung. Sie waren einst bereit, ihr Leben zu opfern. Fragen wurden keine gestellt. Jedenfalls nicht öffentlich. Heroismus macht einsam, könnte eine der Botschaften dieses Filmprojekt von Kühn/Schreiber über eine vergessene Zeit in einem vergessenen Staat sein.

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