Ein berühmtes Foto von Sibylle Bergemann hat vielleicht das stimmigste Bild dessen geliefert, was viele unter dem Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg verstehen, der heutzutage gern als urbaner Mythos gehandelt wird. Aufgenommen hat es die Fotografin in den siebziger Jahren an jener belebten Ecke, wo sich die Schönhauser Allee mit Pappel- und Kastanienallee sowie mit der Dimitroff- heute Danziger Straße kreuzt. Berliner Tempo. Alte U-Bahnwagen, die damals noch fuhren, auf dem Hochbahnviadukt, eine abbiegende Straßenbahn, Menschen, die die Straße auf Höhe der legendären Currywurstbude Konopke überqueren, Autos. Vermutlich eine Nachmittagsstimmung, fotografiert aus einem Dachatelier. Straßen und Häuserdächer bilden die Form eines X, in der Ferne ist der Turm der Gethsemanekirche zu sehen. Eine unverwechselbare Großstadtsituation. Und gleichzeitig eine Szenerie großer Vertrautheit. Gemütliche Anonymität, falls es so etwas je gegeben haben sollte.
Dieser nordöstlichste Stadtteil, der seine krebsartige Entstehung in zwei Jahrzehnten am Ende des 19. Jahrhunderts der prosperierenden Reichsgründung von 1871 verdankt, ist seit jeher Zuzugs- und Zufluchtsstätte zugleich gewesen. Auf gerade mal zehn Quadratkilometern lebten dort bis zum Ersten Weltkrieg 325.000 Menschen, vornehmlich aus den östlichen Teilen des einstigen Kaiserreichs. Werner Hegemann hat in seinem berühmten Werk Das steinerne Berlin (1930) den soziologischen Schlüssel dieser Mietskasernen beschrieben. In den Vorderhäusern großzügige Wohnungen für die Beamten und andere Repräsentanten der Gesellschaft, in den Hinterhäusern und Seitenflügeln das Volk. Meist in Einzimmerquartieren mit Wohnküche und Außentoilette. Eine Mischung, die ins Vorderhaus drängte und somit jenen Menschentyp schuf, der zu fast allem bereit war, um eine Wohnung nach bürgerlichem Standard zu erlangen. Weshalb Heinrich Zilles Satz, dass man einen Menschen auch mit einer Wohnung erschlagen könne, im Prenzlauer Berg seine Bestätigung fand.
Transitstation Hoffnung hat Wolfgang Kil diese Landschaft zwischen einstiger Mauer und dem Friedrichshain genannt, Durchgangszimmer Prenzlauer Berg ist der Titel eines neuen Buches, das den von Kil beschriebenen Sachverhalt etwas profaner benennt. Es geht aber um dasselbe. Um die beständige Flüchtigkeit des Lebens in diesem traditionsreichen Arbeitsbezirk, die häufig mit einer Flucht endete, ins Vorderhaus, in die Neubauten am Stadtrand oder in den Westen. Es wird ein Rätsel bleiben, warum gerade Prenzlauer Berg den Fluchtwilligen eine Bleibe bot. Die Anonymität der Großstadt, ein Ausweg zu DDR-Zeiten vor mörderischem Provinzialismus und festbetonierten Karrieren, fand man auch in Lichtenberg, Mitte oder Friedrichshain. Die Attraktivität des Ortes Prenzlauer Berg lassen Annett Gröschner und Barbara Felsmann in 25 Gesprächen von dort Lebenden als eine sogenannte Künstlersozialgeschichte lebendig werden. Die Malerinnen und Maler, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die Fotografinnen und Fotografen erinnern sich an ihre Ankunft in Berlin, die fast immer im Seitenflügel mit Außenklo begann, in nicht gemeldeten Bruchbuden, deren Schlüssel man vom Vorgänger erhielt. In den Seitenflügeln lebten meist nur noch ältere Leute, die den Sprung in bessere Verhältnisse nicht geschafft hatten und die mit ihrer unverrückbaren Verrücktheit den Kontrast zum gerade begonnenen Künstlerleben bildeten. Viele Texte berichten darüber, dass die alten Mieter ihre jungen Mitbewohner informierten, wenn Kripo oder Stasi sich bei ihnen über die verdächtigen Neulinge informiert hatten. Wer in ähnlichen Verhältnissen gelebt hat, wird viele dieser Aussagen von Tina Bara, Peter Brasch, Sergej Gladkich, Burkhard Kleinert, Grischa Meyer, Bert Papenfuss, Richard Pietrass, Ulrike Poppe, Heiner Sylvester, Peter Wawerzinek und anderen nachvollziehen können. Den Versuch, sich beispielsweise mit einer Lüge bei der Behörde eine Bleibe zu erzwingen. So kamen auch wir 1977 zu unserer Wohnung in der Choriner Straße 1, einem sogenannten Alscherhaus. Wolfgang Alscher war Verwalter von privaten Mietshäusern in ganz Ostberlin. Er war daran interessiert, dass seine Gebäude, die von Handwerkern wegen permanenter Zahlungsschwierigkeiten gemieden wurden, unter die Leute kamen. Er gab uns zehn Besichtigungskarten für Wohnungen, von denen eine schlimmer als die andere war. In die an der Choriner schien Sonne. Die einzigen Mieter außer uns, Richard und Berta Pitschke, Mieter seit 1927, freuten sich. Auch sie teilten uns später die Fragen mit, die ihnen Stasileute gestellt hatten, ob wir viel Besuch bekämen und so weiter. Pitschke, Hilfsarbeiter und Busschaffner, tröstete mich angesichts einer bevorstehenden Haussuchung auf drastische Weise. Als ich ängstlich meinte, sie könnten doch eigentlich gar nichts finden, antwortete er: "Wo se nischt finden, bring'se wat mit."
Vielleicht war es diese Symbiose aus proletarischen Wiederstandsresten und der Sehnsucht junger Bewohner, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, die den Charakter des Bezirkes prägte. Legenden wachsen später, und sie sind fast immer falsch. Prenzlauer Berg, heute sinnloserweise oft Prenzlberg genannt - angeblich soll der Oktoberclub für diese Verniedlichung das Erstrecht haben, bevor es bedenkenlos von jedem Szenefuzzi und Rundfunkreporter nachgequatscht wurde -, war ein verlässliches Netz aus Kneipen, Galerien und Wohnstätten, in denen man bis zum frühen Morgen sitzen konnte und reden. Man kam mit wenig Geld aus, oft reichten 300 bis 400 Mark im Monat. In den Texten des Buches finden sich dafür zahlreiche Beispiele.
Später tauchten die Dichter vom Prenzlauer Berg auf. Eine imaginäre Gesellschaft um den Szenepapst Sascha Anderson, der 1980 gekommen war und sich unter anderem als genialer Geschäftsmann in Sachen Kunstvermarktung erwies. Anderson, dessen Stasi-Akte sich gerade in diesen Tagen wundersam aus Puzzlesäcken der Gauckbehörde zusammensetzt und der sich nicht an seine schizophrene Rolle als Transitreisender zwischen Kunst- und MfS-Welt erinnern möchte, wird von Bert Papenfuss lapidar beschrieben; der ihn bei den Lesungen in der Wohnküche von Ekkehard Maaß traf: "Ekke Maaß verehrte sehr Anderson, als Dichter und als Menschen, er ist ja Philanthrop, und selbst als Anderson mit Wilfriede (Maaß) ein Verhältnis anfing, hatte er das, glaube ich, in der ersten Zeit mit Wohlwollen gesehen, es war ihm wahrscheinlich eine Ehre. Sascha machte dann Ecke auf diese Gruppe von neuen Dichtern aufmerksam. Erst las Sascha dort selber und zog uns dann nach. Mit uns meine ich Döring, Häfner und mich, Jan Faktor gehörte später auch dazu."
Andere wie Peter Wawerzinek mieden diese Texteküchen und sagten von sich, im Prenzlauer Berg gelebt zu haben, aber dort nicht eingemeindet gewesen zu sein. Vielleicht Koketterie. Wawerzinek war zwar eine Weile mit der Familie in einen Hohenschönhausener Neubaublock gezogen, hielt es dort aber nicht aus und landete schließlich am Zionskirchplatz, um anschließend mit dem Hallenser Barden Matthias BAADER Holst herumzuziehen. "Ich wollte eigentlich weg von Berlin, denn was es dort gab, war für mich nicht mehr interessant. Es interessierte mich nicht, Leute in meine Aktionen zu integrieren, die bereits mit anderen zusammenarbeiteten. Ich wollte nicht irgendwo das dritte Blütenblatt werden."
Der Schriftsteller Peter Brasch wohnt heute in der Kuglerstraße. "Mein Leben findet zu 75 Prozent in dieser Wohnung statt. Je weiter man sich wegbewegt, desto größer ist die Gefahr, dass man ungenau wird." Andere, wie der Kulturstadtrat von Prenzlauer Berg, Burkhart Kleinert, und der PDS-Abgeordnete Bernd Holtfreter leben und arbeiten ebenfalls dort, wo sie als junge Leute angefangen haben. Kleinert, der sich in Hinterhofdiskussionszirkeln mit Gleichgesinnten um eine Reformierung der DDR stritt und die rund 600 illegal eingeführten Bücher der Havemann-Gesellschaft vermacht hat. "Die Geschichte, wie die Bücher im einzelnen beschafft wurden, mit welchen Transaktionen und Risiken, ist aber nur einer Handvoll Leuten bekannt, mehr waren damals auch nicht beteiligt, und von denen sitzt keiner in der Havemann-Gesellschaft." Holtfreter, der in der Oderberger Straße einen sogenannten Wohnbezirksausschuss (WBA) unterwanderte, um mehr Einfluss auf die Kommunalpolitik zu gewinnen, und mit dieser subversiven Strategie den herrlichen Hofgarten in der Oderberger 15 aufbaute, einen Ort für Kultur und Diskussion. Als die Häuser der Straße Mitte der achtziger Jahre abgerissen wurden und die Mieter in einen gigantischen Plattenbau an der Michelangelostraße umgesetzt werden sollten, kippte Holtfreter mit Gleichgesinnten auch dieses Irrsinnsprojekt und gab die Erfahrungen an Betroffene in der Rykestraße weiter, deren Häuser ebenfalls abgerissen werden sollten.
Das dicke Buch von Gröschner/Felsmann sollte jedem zur Pflichtlektüre gemacht werden, der vom Prenzlauer Berg schwärmt. Die in ihm enthaltenen Geschichten zerstören den Begriff eines fröhlichen Künstlervölkchens um Wasserturm und Kollwitzplatz. Zugleich widerlegen sie die geschwärzte Sicht auf dieses Milieu als einer permanenten Hefe des politischen Widerstands. Sicher gab es im Prenzlauer Berg erheblich weniger Fahnen zum 1. Mai als anderswo in der DDR, die Wahlergebnisse lagen bei 95 Prozent, höher fälschen ging beim besten Willen nicht, es gab erheblich mehr Zivilcourage als anderswo, aber Helden lebten auch dort nicht. Stattdessen veränderten sich die Freundeskreise durch fortwährenden, schmerzhaften Abgang in den Westen. Der Transitraum Prenzlauer Berg leerte sich ständig. Auch wer das Durchgangszimmer in andere Berliner Bezirke verließ, bekam gleichfalls das Stigma des Flüchtigen verpasst.
Heute ist das anders dort sichtbar geworden. Nobelrestaurants und Szenekneipen haben rudelweise aufgemacht und finden ihr interessiertes Publikum aus Ost und West. Kleine Läden sorgen für Kolorit. Ein Frühstück gegen zwölf Uhr an der Sredzkistraße ist ein melancholisches Vergnügen. Die schrillsten Friseure und die verrücktesten Modeläden scheinen dort zuhause zu sein, hinter dem Tor der Volksbühne, auf dessen Dach eine Leuchtschrift verheißungsvoll drohend "Ost" verkündet. Kein Montmartre nirgends. Vielleicht ein glitzerndes Gruselkabinett vergangener Geschichten. Vielleicht auch nur prosaisches Studentenquartier junger Leute aus Mannheim oder Mühlheim, die sonst nichts Billigeres kriegen und keineswegs auf der Suche nach der vergangenen Zeit dieser Gegend sind. Oder "zum dritten Mal in seiner wechselvollen Geschichte, der ideale Fluchtpunkt vieler Hoffnungen" (Wolfgang Kil).
Und während es die Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe genießt, mit Leuten aus den alten Zusammenhängen in einer der neuen Straßenkneipen zu frühstücken, will Peter Brasch nicht mal mehr bei der legendären Currywurstbude Konopke aufkreuzen, weil dort nach seiner Meinung alles viel edler geworden sei. "Ich war seitdem nie wieder da. Manchmal habe ich noch Sehnsucht nach einer Currywurst von Konopke, aber die esse ich jetzt woanders. Ich würde mir sonst alle meine Illusionen kaputtmachen." Was Brasch Illusionen nennt, meint Erinnerungen. Aber die sind häufig ebenso illusionär wie Zukunftshoffnungen. Wofür der Prenzlauer Berg als Begriff nichts kann.
Barbara Felsmann/Annett Gröschner: Durchgangszimmer Prenzlauer Berg. Lukas Verlag Berlin
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