Jenseitige Gegenden

SURREALES Eine Ausstellung der Hamburger Kunsthalle entdeckt die Zwischenwelten

Wir haben es uns angewöhnt, auch in der bildenden Kunst eine stete Fortentwicklung der Stile und Handschriften vorauszusetzen, ein Schneller, Höher, Weiter durch das Überwinden von überholt Geglaubtem. Da ist es angenehm, eine Ausstellung zu sehen, in der es nicht um Surrealismus geht, sondern um surreale Welten, nicht um Moderne, sondern um Zeitloses im Sinne des fortwährenden Moments. Dinge beispielsweise, die wir träumen, nachts oder auch am Tag. Dass solche unterbewussten Bilder nur bedingt an einen gesellschaftlichen Aktualitätskanon gebunden sind, zeigt der Vergleich von Bildern und Skulpturen aus drei Jahrhunderten nachdrücklich. Es gibt eine Übereinstimmung expressiver Bildsprachen, die so vielleicht nicht zu erwarten war. Erst der Blick des Privatsammlers, der diese bemerkenswerte Schau zusammengetragen hat, bildet den roten Faden eines Programms, das abseits kunstwissenschaftlicher Einordnungen funktioniert. Vor allem die Kerkerblätter Giovanni Batista Piranesis (1720-1788) müssen in diesem Kontext gesehen werden. Sie sind auf bestürzende Weise "modern". Die Radierfolge von 16 Blättern verengt architektonische Räume, verschiebt Zeitebenen und lässt Platz für viele Deutungen. Während in "carceri II" am linken unteren Bildrand ein Folterknecht beiläufig das Rad dreht, das einen Delinquenten in Stücke reißt, agiert oben eine Menschengruppe auf einem Marktplatz. Die Simultanität verschiedener Szenen, die das gleichgültige Nebeneinander von Idylle und Katastrophe heutiger Zeiten vorwegnimmt.

"Von all diesen Kunstgriffen geht Verunsicherung aus", schreibt der frühere Direktor der Hamburger Kunsthalle, Werner Hofmann, im vorzüglichen Katalog der Ausstellung. Eine Verunsicherung, die sich durch viele Arbeiten zieht, seien es Goyas Caprichos ("Die Inhaftierung eines Gefangenen verlangt keine Folterung"), seien es Alfred Kubins radierte Folterträume oder James Ensors Kaltnadelblatt "Seltsame Insekten", die an Kafkas Gregor Samsa denken lassen.

Viele der ausgestellten Werke sind durch Literatur inspiriert, andere besitzen literarische Qualitäten, beispielsweise Max Klingers geheimnisvolle Serie "Phantasien über einen gefundenen Handschuh, der Dame, die ihn verlor, gewidmet". Wunderbar lavierte Tuschblätter, auf denen der Künstler das eher banale Sujet fast ins Überirdische treibt.

Einen zentralen Platz nehmen Arbeiten von Odilon Redon (1840-1916) ein, außerordentlich phantasievolle Gebilde, die den Bildtiteln wie "Ein Reiter in Mondlandschaft", "Schwebende Kugel mit Frauenprofil" oder "Himmelskugel" adäquat sind. Viele Arbeiten teilen dem Betrachter den Beginn einer skurrilen Schöpfung mit, bei Salvador Dali ist es "Die Geburt der flüsigen Ängste", bei Andre Masson die "Geburt des Automaten". Es sind Kreationen der Entgrenzung, Phantasien der Ohnmacht vor dem Denkbaren, das als das Machbare erscheint. Häufig entsteht durch die Zuordnung der Künstler in diese Schau ein neuer Blick auf ihre Werke, beispielsweise auf die Plastiken von Henri Laurens. Seine Bronzen "Die Woge", "Kleine Musikantin" und "Der wunderbare Fischzug" kontrastieren mit Bildern Max Ernsts, einer Bleistiftzeichung Joan Mirós und scheinbar profanen Gestaltungen Jean Dubuffets.

Zudem bietet die AusstellungEntdeckungen von bisher fast Unbekanntem, beispielsweise die Arbeiten Hans Bellmers (1902-1975), der 1938 Deutschland verließ. Bellmer baute 1933 eine lebensgroße Puppe aus Holz und Metall, die er anschließend zerlegte und neu zusammensetzte. Alle diese Montagen und Demontagen hielt er fotografisch fest und machte daraus das Buch Die Puppe (1934). Durch den Kamerablick schafft er Distanz zum eigenen Werk und dessen Metamorphosen. In einem Brief an einen Freund schrieb Bellmer:" Sie müssen wissen, daß nichts in mir lebendiger ist als mein steter Widerspruchsgeist, der mich dazu nötigt, alles zu komplizieren, was mir am Herzen liegt. Das ist, gelinde gesagt, ungemütlich, und insofern ich Sie, lieber Freund, mit dergleichen Umtriebe belästige, bitte ich Sie um Verzeihung."

Es scheinen Nachrichten aus einer untergegangenen Welt zu sein, die Kunst noch als Verinnerlichung und Selbstfindung betrieb und nicht als totale Entäußerung. Vor allem die Blätter Paul Klees geben der Sammlung ihre spannungsvolle Mitte. In seinem Aquarell "Ansicht der schwer bedrohten Stadt Pinz" von 1915 zeigt sich, dass die Wirklichkeit surreal ist, die durch den Krieg verursacht wird. Das Blatt bietet Kriegsprosa, anstelle von Häusern und Straßen sehen wir Angriffspfeile und andere strategische Chiffren. Die Realität des Krieges als Antithese des Humanen. Während des Krieges hatte Paul Klee in sein Tagebuch geschrieben: "Man verlässt die diesseitige Gegend und baut dafür hinüber in eine jenseitige, die ganz ja sein darf."

In diesen jenseitigen Gegenden sind viele Arbeiten der Ausstellung zu Hause. Sie sind Fluchtorte für den Betrachter, der zum Beispiel in Edouard Manets fünf Lithografien "Der Rabe" die Welt der gleichnamigen Novelle Edgar Allan Poes nachempfinden kann. Er ist in der Lage zu erkennen, dass der Schritt aus der sogenannten alltäglichen Realität in das Reich der Phantasie nur gering ist. Oder dass der Tod vielleicht nur ein Traum ist, aus dem wir nicht mehr erwachen können.

Surreale Welten. Hamburger Kunsthalle bis 7. Mai, von der Heydt-Museum Wuppertal 4. Juni bis 3. September und Kunsthalle Tübingen17. September bis 12. November 2000.

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