Wir machen es uns richtig schön«, versprach meine Mutter mir und meinem Bruder an jenem dunklen Novembernachmittag des Jahres 1954, nachdem ein Polizist die Nachricht vom plötzlichen Tod unseres Vaters überbracht hatte. Ein mühevoller Satz, der ihr viel abverlangte und den Versuch unternahm, uns über den Verlust zu trösten. Alles, was in den nächsten Monaten geschah, schien mir die Einlösung dieses Versprechens zu sein, das Credo einer Familie, die buchstäblich ihren Ernährer verloren hatte, denn außer Hausfrau hatte meine Mutter keinen Beruf erlernt.
Weshalb wir in den Sommerferien 1955 auch keine großen Sprünge machen konnten. Ins Betriebsferienlager brauchten wir nicht mehr zu fahren, nachdem ich im Jahr zuvor dreckverkrustet und mit Eiterbeulen auf dem Kopf aus dem Elbsandsteingebirge gekommen war. Meine Mutter beantragte für uns drei einen Interzonenpass, der zu den Erleichterungen der sogenannten Politik des Neuen Kurses nach dem 17. Juni 1953 gehörte. Wir bekamen ihn problemlos genehmigt und traten unsere Reise in die Heimat meiner Mutter an, das Oldenburger Land. Wir kannten uns dort schon gut aus, waren wir doch seit frühester Kindheit mit Anekdoten und Geschichten aller Art aus der zahlreichen Verwandtschaft versorgt worden. Mein Großvater hatte sechs Geschwister, bei meiner Großmutter waren es zwölf. Viele von ihnen siedelten seit Generationen auf den Dörfern zwischen Delmenhorst, Wildeshausen und Oldenburg in Bookhorn, Falkenburg, Munderloh, Wüsting, Hude, Bergedorf und Ganderkesee.
Der Interzonenzug startete an einem Julisommertag in Berlin-Friedrichstraße. Wir schleppten zwei Koffer und hatten Campingbeutel auf dem Rücken, Designprodukte der Fünfziger, die mit einer Kordel zusammengeschnürt wurden und eigentlich viel unpraktischer als die aus der Mode gefallenen Rucksäcke waren. Sicher hatten wir irgendwelche Geschenke für die Verwandten dabei, wie es sich nach gutbürgerlichem Brauch gehörte. Was es war, habe ich vergessen. Der Bahnhof war noch nicht in Katakomben zerteilt wie nach dem Mauerbau. Lediglich eine Menschenmauer bevölkerte den Bahnsteig C. 1955 waren die Behörden großzügig, die Reichsbahn war es nicht. Wir kriegten dennoch einen Fensterplatz, und die Fahrt konnte beginnen. Meine Mutter holte die Stullen raus und die hartgekochten Eier. Es ging Richtung Hamburg, der Zug hielt, wenn ich mich richtig erinnere, noch einmal in Falkensee bei Berlin, wo er auf gültige Reisepapiere vorgefilzt wurde. Unterwegs standen wir längere Zeit auf einer Ausweiche der eingleisigen Strecke. An uns rauschte ein legendärer Triebwagen vorbei, der Fliegende Hamburger. Die Kellner hielten grüßend ihre Serviertücher in den Fahrtwind, für uns ein Inbegriff von Weltläufigkeit und Fernweh. In Hamburg-Hauptbahnhof stiegen wir aus und fuhren mit dem Nordexpress nach Bremen. Er bestand aus einer Dampflok der Baureihe 03 und drei Wagen. Wir hingen aus dem Fenster und stoppten die Zeit zwischen den Kilometersteinen. » 125 Sachen«, schrie mein Bruder begeistert. In Bremen schien sich meine Mutter in einen anderen Menschen zu verwandeln, sie wirkte jugendlich und strahlte das Glück eines Menschen aus, der endlich daheim angekommen war. Hier war sie geboren, getauft worden und zur Schule gegangen, bevor ihr Vater, der geschäftlich viel unterwegs war, eine Karte genommen und mit dem Zirkel die Stadt in der Mitte Deutschlands gesucht hatte: Magdeburg. Sie zeigte uns die Weser und die Bremer Neustadt, wo sie aufgewachsen war. Anschließend zählte sie die Bahnhöfe bis Delmenhorst, als ob sie nicht schnell genug ankommen könne: Heidkamp und Huchting. Wir stiegen auf dem Vorplatz in einen braunroten, klapprigen Bus, der uns nach Falkenburg brachte. Mein Bruder war schon einige Haltestellen vorher ausgestiegen und verbrachte die nächsten vier Wochen auf dem Bauernhof einer Schwester meines Großvaters. Mich setzte meine Mutter in Habbrügge ab, das die Einheimischen Habrooch nennen. Ich bekam ein Zimmer für mich, was ich aus Berlin nicht kannte. Es war das Jungszimmer von Onkel Karl, der aus dem Krieg nicht zurückgekommen war. Karl, der Hoferbe, ein studierter Germanist und glühender Nazi, dessen letzte Worte nach Auskunft seines Burschen gelautet hatten: »Jetzt wollen wir dem Russen mal zeigen, was eine Initiative ist.« 1955 hatte seine Mutter die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass er eines Tages zurückkommen könnte, dass er vielleicht seit zwölf Jahren in einem sogenannten Schweigelager sitzen würde.
Das Bauernhaus war 1907 neu erbaut worden, es hatte jenen großen, grünweißen Toreingang wie alle Niedersachsenhäuser. Auf der geräumigen Diele standen im Winter die Kühe, es schlossen sich Schweineställe an und die Waschküche, durch die man in den Wohnbereich gelangte. Weil es keine Erben gab, hatte eine entfernte Verwandte mit ihrem Mann die Landwirtschaft übernommen. Ich spielte mit ihren Kindern, der dreijährigen Anke und dem siebenjährigen Egon. Ich war zwölf Jahre alt. Wir schnitten Pferde, Kühe und Hühner aus Papier aus und bauten einen Bauernhof. Anke kniff mir von hinten in den Arm und fragte »Kell dat?« Was auf Plattdeutsch hieß, ob es wehtäte. Es tat weh.
Morgens wachte ich auf und sah in den herrlichen, mit alten Apfelbäumen bestandenen Bauerngarten, der ein wenig hügelig war und in dem gerade mein Onkel Hinrich, der im Haus eine Schuhmacherei betrieben hatte, ein Bienenvolk mit Hilfe einer Wolldecke fing. Nach dem Frühstück fuhren wir aufs Feld, banden Roggengarben zusammen oder rechten das Heu zu großen Haufen, von wo aus es anschließend auf den Pferdewagen gestapelt wurde. Oben drauf lagen wir Kinder und bekamen bei der Gaststätte Wiedau ein Schokoeis in die Höhe spendiert. Herrlich waren die Vespern auf dem Feld mit Rosinenstuten und Schwarzbrot, das als 24Pfünder gebacken und vertikal geteilt wurde, bevor man seitwärts die Scheiben abschnitt. Es gab Schlackwurst und Hackgrütze dazu. Eiskaltes Wasser zum Trinken holten wir aus einem Ziehbrunnen.
Das Plumpsklo befand sich praktischerweise zwischen den Schweinekoben, man saß abends bei Funzelbeleuchtung inmitten des Gegrunzes und Gequiekes, man konnte in Ruhe lesen und sich herrlich dabei fühlen. Die Schweine wurden tagsüber auf die Weide getrieben, meine Großtante Annchen rief sie mit einem gellenden »Faffaffaff«. Meinem Urgroßvater hatte die benachbarte Falkenburg gehört, ein riesiges Lokal, wo die jährlichen Schützenfeste gefeiert wurden. Die Schützen saßen mit ihren Frauen an langen Tischen, tranken Bier vornehmlich der Sorte Becks und aßen endlose Würste. Eine Blaskapelle spielte den »Schönen Westerwald« und »Lorelorelore«. Viele meiner Verwandten waren deutschnational eingestellt, Onkel Kurt las die Zeitung Reichsruf, ein anderer nannte sich Fritz, adF. Das bedeutete in Anlehnung an ein Kürzel aus Nazizeiten: Fritz auf dem Feld. Onkel Heini aus Ganderkesee machte Gedichte zur politischen Lage. Der Refrain »Wir lieben blank-, wir lieben blank-, wir lieben blankgeputzte Stiefel«, sollte an den ersten Verteidigungsminister Theodor Blank und die neue Bundeswehr erinnern. Kabarettverse einer norddeutschen Innerlichkeit. »Wie ist es bei Euch in der russischen Zone«, lautete die besorgte Frage der Familie an meine Mutter. Die erzählte dem einstigen Schuster, dass ein paar Schuhe für uns Jungs weit über hundert Mark kosteten. Das konnte und mochte er nicht glauben, stritt es ab, bis er hilflos meinte, uns dann ja ein Paar schenken zu müssen. »Wat blifft jii nech hier?«, meinte Tante Annchen. Meine Mutter antwortete ausweichend. Sie hatte mitgekriegt, dass es neben den nicht weit entfernten Dörfern Kirchhatten und Sandhatten eine Heimatvertriebenensiedlung gab, die von den Einheimischen liebevoll »Wirhatten« genannt wurde. Meine Mutter zog es vor, auf Besuch in ihrer Heimat zu sein. Mit dem Auto ihrer Bremer Freundin aus Harzburger Pensionszeiten fuhren wir an die Nordsee nach Horumersiel oder nach Duhnen bei Cuxhaven. An der Fahrtrinne hinter dem Wattenmeer sah ich den ersten Nacktstrand meines Lebens. Junge Leute spielten Volleyball, eine Frau trug nur ein rotes Kopftuch.
Am liebsten jedoch fuhr ich mit meiner Mutter, die während der Ferien bei drei unverheiraten Tanten wohnte, per Fahrrad durch den Hasbruch, einen alten Eichenwald, nach Wüsting. Dort war Onkel Reinhard Stationsvorsteher. Ich konnte aus dem Fenster alles beobachten, die Eilzüge, die nach Wilhemshaven oder Bremen jagten, die Personenzüge und den täglichen Milchtankwagen, der langsam an die Rampe rangiert wurde. Quer über die Gleise gingen wir in den Garten des Bahners und ernteten Erdbeeren oder Schoten. »Jii kommt doch allwedder next Johr«, lautete Mitte August Tante Annchens freundliche Nachfrage. »Wenn's denn noch geht«, lautete die skeptische Antwort meiner Mutter. Es ging noch ein paar Jahre. Bis 1958 bekamen wir den begehrten Interzonenpass, beim letzten Mal nur nach energischer Intervention im Berliner Grauen Kloster, wo ich zur Schule ging. Mein Bruder studierte schon und durfte nicht mehr mitreisen.
Im Sommer 1958 war ein entfernter Verwandter aus Oslo nach Falkenburg gekommen. Onkel Sigurd mit seinen beiden Töchtern Catherine und Annemarie, in die ich mich sofort verknallte. Sigurd war offenbar ein hohes Tier, auf den alle Falkenburger sehr stolz waren. Es sollte ein Foto von ihm geben, auf dem er mit seinem Freund König Harald abgebildet war. Onkel Sigurd war Norwegens Chef der Cunardline und er erforschte die Geschichte unserer Familie mütterlicherseits, die er bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgte. Er registrierte jede Verästelung nach Skandinavien, zu den Salzburger Protestanten, die es nach Ostpreußen verschlug, und zu uns Berlinern. Gerade hatte er ein dickes Buch über die Familiensaga veröffentlicht, in dem auch wir genannt waren. Ich habe es nie in der Hand gehabt, denn es kostete den damals sündhaften Preis von 45 Mark. Als wir wieder zuhause waren, schrieb Onkel Sigurd einen herzlichen Brief und gab uns den Rechercheauftrag, nach Eisenach zu fahren, wo es auch noch irgendwelche Loeneckers oder Düßmanns geben sollte. Wir schwänzten.
Als die Grenze dicht war, hielt meine Mutter als Rentnerin durch alljährliche Besuche die Kontakte nach Oldenburg und informierte uns wie immer ausführlich über alle Hochzeiten, Beerdigungen und Kindsgeburten. Manchmal besuchten uns Leute von dort, schwere, wortkarge Menschen, die riesige Erdbeertorten mitschleppten oder Käse.
1994 fuhr ich mit meinen Söhnen nach Falkenburg, um ihnen zu zeigen, wo sie herstammten. Die schönen Sandwege zwischen den Einzelgehöften waren inzwischen sämtlich asphaltiert, vor das große Eingangstor war ein moderner Anbau im Stil der Sechziger gesetzt worden, die Diele hatte sich in eine Wohnung mit einem großen Kaminraum verwandelt. Das alte, halb verfallene Bauernhaus aus dem 17. Jahrhundert, in dem noch mein Großvater aufgewachsen war und das in den fünfziger Jahren den Hühnerstall beherbergte, war durch Abriss entsorgt worden. Das Land meiner Kindheit und meiner Sehnsucht war in der Modernisierung untergegangen. Meinen Söhnen gefiel alles sehr gut. Ich suchte unauffällig nach anderen Spuren unsrer einstigen Ferienreisen und fand nichts mehr. Nicht einmal die plattdeutsche Sprache, in der sich meine Mutter manchmal mit uns unterhielt, wenn die neugierige Berliner Nachbarin nichts mitkriegen sollte.
Nur die Bäckersfrau Sundermann, bei der ich Kuchen für die Verwandtschaft kaufte, sah mich an und wusste augenblicklich, wo ich hingehörte. »Sie gehen doch gleich hintenrum über den Acker zu Düßmanns Hof«. Es waren ja auch gerade mal 36 Jahre vergangen, seitdem ich das letzte Mal ihren Laden betreten hatte.
Leider erlaubte meine Mutter uns nicht das, was andere Mitschüler und spätere Kommilitonen bis zum Mauerbau mit Ausdauer praktizierten: Nach Tempelhof mit der S-Bahn zu fahren und von dort zum Nachttarif von 45 Mark nach Hannover zu fliegen, um anschließend die Welt zu erkunden, solange das Geld reichte. Freunde meines Bruders radelten bis Neapel, andere trampten durch Frankreich und Spanien. Sie erzählten uns ausführlich von ihren Erlebnissen. Seltsamerweise passierte ihnen nichts. Vielleicht waren die Behörden froh, dass sie überhaupt wieder ins Vaterland der Werktätigen zu rück gekehrt waren.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.