Auf dem sonnigen Berliner Alexanderplatz steht ein grün-weißer Polizeibus. Seine Fenster sind vergittert. Aber ein Schild an der Hintertür lädt ein: "Hier können Sie Auskunft bekommen. Hinweise geben. Anzeigen erstatten." Die Tür ist verschlossen, es scheint keinen Grund für eine Anzeige zu geben. Vielleicht machen die Polizisten gerade Mittagspause. Gegenüber dem Polizeiauto fordert eine von Efeu überwachsene Wandinschrift dazu auf, das Leben des Vorsitzenden Gonzales zu schützen. Plötzlich ein lauter Knall. Einige Passanten drehen sich erschrocken um. Aber kein Schuss ertönte, ein Obdachloser hat nur eine Papiertüte platzen lassen. Zufrieden mit seiner subversiven Aktion schaut er sich um, bevor er - ganz Ordnungsliebe - die Reste in einem Papierkorb versenkt. Auch kein Anlass für eine Anzeige. Der Obdachlose trägt eine Fellmütze plus DDR-Kokarde, sein Saufkumpel ein blaues Basecap mit der Inschrift "Für den Kopf". Mittagsruhe. Die Bockwurstbude ist mäßig besucht. Hinter ihr rauscht Walter Womackas Alexbrunnen, vom Volksmund einst liebevoll Nuttenbrosche genannt. Über die riesige Fläche des Platzes schleicht eine Straßenbahn der Linie 5.
Zum Dinner in the sky lädt der Burger-Imbiss ein, der an der Stelle ist, wo vor zehn Jahren am 4. November 1989 die Rednertribüne bei der größten Demonstration stand, die die Stadt je erlebte. Sie war ein Ausbruch aus der Asche der Verordnungen und Anträge zu ihrer Organisation. Künstler des Deutschen Theaters, unter ihnen Jutta Wachowiak, Johanna Schall und Ulrich Mühe, hatten den Antrag auf Zulassung bei den "Organen" gestellt. Für den Spiegel sind sie in der Rückerinnerung "sozialistische" Künstler, was immer man darunter verstehen mag. Wahrscheinlich ist es nach wie vor geboten, an dieser Demonstration, vor der die DDR-Mächtigen zurecht zitterten, ein wenig herumzukratzen. Das Thema, unter dem die fast eine Million Menschen auf die Straße gingen, waren die beiden DDR-Verfassungsartikel 27 und 28, in denen die Presse- und Meinungsfreiheit garantiert wurden. Der Termin der Demonstration war in keiner Zeitung angekündigt, er hatte sich auch so herumgesprochen. Hatte die SED mit einer derartigen Menschenmasse gerechnet? In Leipzig waren eine Woche zuvor 300.000 Leute auf die Straße gegangen. Falls Politbüro und Regierung die Absicht gehabt haben sollten, die Berliner Demonstration umzudrehen oder zu manipulieren, wie es auch in Schwerin und Neubrandenburg versucht wurde, dann ist diese Absicht wie in den genannten Städten auch gründlich gescheitert. Das Fass war voll zum Überlaufen. Die heutige Mäkelei, auf dem Alex hätten ja nur vier Bürgerrechtler gesprochen, ist eine hämische Nachkarterei, die den damaligen Kontext nicht berücksichtigt. Am 4. November war es erst drei Wochen her, dass Honecker zurücktreten musste. Der Polizei-, Staatssicherheits- und Militärapparat funktionierte noch. Die Demonstrationsteilnehmer hörten deshalb auf jede Stimme, die aus den bis zum Überdruss ertragenen Zustimmungsritualen ausbrach. Es konstituierte sich gerade erst eine Massenbasis zur Abschaffung der bisherigen Verhältnisse, ohne zu wissen, wie es weitergehen sollte. Weshalb kaum Qualitätsunterschiede unter den Rednerinnen und Rednern gemacht wurden. Wen störte es, dass Gregor Gysi damals noch ein eher schlechter Redner war, der mehr Telefone für die Bevölkerung forderte und auf das Abhören der Gespräche durch die Stasi anspielte. Selbst LDPD-Chef Manfred Gerlach, verschlissen durch Jahrzehnte Blockpolitik, genoss Aufmerksamkeit, weil er neue Töne fand. Bürgerrechtler wie Friedrich Schorlemmer, Jens Reich und Marianne Birthler dürften sich vermutlich dagegen wehren, dass sie bei ihrem Auftritt auf der Tribüne des 4. November ein moralisches Alleinvertretungsrecht gehabt hätten. Das würden sie ebenso Christa Wolf, Stefan Heym, Christoph Hein, Heiner Müller und vielen anderen Künstlern zubilligen, die an jenem Tag gleichfalls zu den Massen sprachen und riesigen Beifall erhielten. Dass Günther Schabowski und Markus Wolf ausgepfiffen wurden, war für sie selbst wie für die Kundgebungsteilnehmer eine neue Erfahrung. Dass sie versuchten, gegen die lärmende Abwehr anzuschreien, schien Vielen nach den Jahren erzwungenen Zuhörens eine ebenso gerechte wie verdiente Anstrengung wert zu sein. Schließlich war auch die Schauspielerin Steffi Spira keine Bürgerrechtlerin im beckmessernden Nachurteil. Will etwa heute jemand leugnen, dass die 81-jährige für ihre feurige Rede den stärksten Applaus bekam, als sie für das Politbüro das Altersheim und ein Ende der Fahnenappelle an den Schulen forderte? Das Neue am 4. November waren die öffentlichen Reden. Die Opposition begann, ihre Sprache zu finden, während die Demonstranten auf dem Leipziger Ring mit ihrem Chorus "Wir sind das Volk" den Herrschenden jene Parole um die Ohren haute, mit der die einst ihre Macht legitimierten.
Der sonnige, kalte Sonnabend auf dem Alexanderplatz verkündete keine Programmatik, er nannte keine politischen Ziele. Er war ein Luftholen, eine öffentliche Sprach übung nach Jahrzehnten verordneten Schweigens. Das machte seinen Wert aus, der von den Anwesenden auch so verstanden wurde. Und so war dieser Tag, der vielleicht die letzte Chance zur Reformierung der DDR hätte sein können, the last exit GDR, zum Exitus des sozialistischen Versuchs geworden, der an seiner Erstarrung gescheitert war. Kein 9. November ohne den 4. November. In seinem Buch Fliegender Wechsel schreibt Klaus Schlesinger, der an jenem Tag aus Westberlin zum Alex gekommen war: "Ist Ihnen auch aufgefallen, welche Ruhe über diesem Zug der Massen lag? Ich mußte erst die Gesichter sehen, um zu begreifen, daß sie aus einer inneren Kraft kam, die den Lärm, mit dem man die Gespenster der Macht vertreibt, nicht mehr brauchte." Schlesinger hatte sich bis zur Tribüne vorgearbeitet, im Kopf eine Rede. "Ich wollte mit dem Satz beginnen, daß ich einer von denen sei, die eine rigide Herrschaft aus diesem Land gedrängt habe, und daß ich seit zehn Jahren zwar nur ein paar Straßen weiter wohnte, aber wie im Exil. Ich wollte ein Wort verlieren über die Gefühle, die mich bewegten, angesichts dieser gewaltigen Manifestation für ein freies, menschliches Land, und daß ich ihnen, den Versammelten sagen wollte, die Zeit sei nun reif, endlich zurückzukehren, nach Hause."
Schlesinger hat diese Rede nicht gehalten. Und Wolf Biermann hat auf dem Alex nicht gesungen, wie es Bärbel Bohley organisieren wollte. Der Sänger kam nicht durch jene Grenze, die fünf Tage später offen war und von deren Öffnung Bärbel Bohley meinte, die Regierung der DDR habe nun endgültig den Verstand verloren. Hat sie das wirklich? In jenen frühen Novembertagen 89 hing ein Plakat des Berliner Grafikers Manfred Wagenbreth in der Stadt, auf dem ein Matrose zur Gründungsversammlung des Neuen Forums am 10. November in der Gethsemanekirche aufrief. Den Matrosen dürfte es weggeschwemmt haben, als die DDR-Grenzer in den Abendstunden des 9. Novembers fluteten, wie sie es selbst nannten. Jens Reich erinnert sich: "Der eigentliche Grund, dass mein 9. November anders verlief als für die meisten anderen DDR-Bürger, war die Politik. Die Arbeit im Neuen Forum nahm die ganze Freizeit von uns Amateurpolitikern in Anspruch. Am Wochenende, vom 11. Bis 12. November, sollte in Oberschöneweide eine DDR-weite Delegiertentagung des Neuen Forums stattfinden. Als wir am Samstag zu zweit im Trabant 601 zu dieser Tagung aufbrachen, erlebten wir an der Kreuzung Mühlenstraße Ecke Florastraße die Szene, die uns Gegenwart und Zukunft klarmachte. Unser Ziel lag in Richtung Südosten. Die Kreuzung konnten wir aber minutenlang nicht passieren: Die Straße war blockiert von einer schwarzen Menschenschlange, die von links, vom S-Bahnhof Pankow nach rechts, in Richtung Grenzübergang Wollankstraße strebte, um den Westen zu besuchen." Reichs Frau meinte: "Siehst Du, so wird es jetzt sein. Für unser Neues Forum wird sich keiner mehr interessieren. Bislang standen die alle hinter uns, jetzt werden sie quer zu uns laufen."
Wagenbreths Berufskollege Manfred Butzmann hatte im September desselben Jahres eine Ausstellung in der Bonner Galerie Linneborn. Er wunderte sich beim Gang durch die Stadt über postkartengroße Aufkleber mit der Parole: Einheit jetzt. Darunter ein Brandenburger Tor. Als die Demonstranten vom 4. November noch von einer reformierten DDR vor sich hinträumten, als Bürgerrechtler und Künstler ihre Mitbewohner dazu ermuntern wollten, einen Aufruf "Für unser Land" zu unterschreiben, zeichnete sich für andere längst ab, dass das Unternehmen gelaufen war. "Ihr seid für die Sowjetunion nur eine außenpolitische Manövriermasse", hatte uns Mitte der achtziger Jahre eine in Berlin lebende Freundin gesagt, deren Eltern aus der UdSSR stammten.
Vielleicht ist es schwer, aus derart unterschiedlich verlaufenen Volksversammlungen wie denen vom 4. und 9. November Interpretationen abzuleiten. Durch die hastige Maueröffnung mit ihren neuen Reizen hat sich bei manchem das Gefühl durchgesetzt, fünf Tage zuvor sei die DDR ganz bei sich gewesen, und das in aller dialektischen Doppeldeutigkeit. Kurz vor der Gipfelbesteigung benutzte das Volk einen Fahrstuhl, aus dem es wie die Fahrgäste in Robert Merles Roman Madrapour noch nicht herausgefunden zu haben scheint.
Derweil liegt der Alex wie ein Schrottplatz des Erinnerungsrecyclings. Am einstigen Haus des Lehrers hängt das riesige Plakat mit der Inschrift Wir waren das Volk. Der Satz ist eine nostalgische Erpressung von betörendem Reiz. Volk kennt kein Imperfekt, nur die Erinnerung kennt es. Aus dem Volk ist Bevölkerung geworden, faule Ossis, die dringend der Erziehung bedürfen. Während sich die Ostler mühsam ihrer Vergangenheit bewusst werden, zimmern ihnen Magazine in wöchentlichem Rhythmus eine neue, alte DDR. Sie dient als Laufställchen der besonderen Art und ersetzt zumindest im psychologischen Bereich die einstige Mauer voll. Wie wäre es, wenn die Demonstranten von damals am 4. November noch einmal auf den Alex kommen würden? Welche Redner von vor zehn Jahren stünden zur Verfügung und was würden sie heute sagen? Welche Öffnung könnte ein 9. November 1999 bringen?
Ein blauer Himmel leuchtet über dem "Kleinpreismarkt am Alex", das runde Klo ist mit der Inschrift "Lust auf die Million?" verschönt, auf den Kachelhochhäusern der frühen Sechziger leuchtet nur eine Reklameschrift: FIAT. Was auf Lateinisch so viel heißt wie: Es könnte werden. Aber Geschichte kennt keinen Konjunktiv.
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