Petzen als gesellschaftlicher Auftrag?

Zuträger Eine Studie über die Arbeit des Literaturzentrums Neubrandenburg zu DDR-Zeiten

Wenn man in Deutschland Probleme mit dem Inhalt einer Sache hat, bemängelt man deren Form. Die Berliner Germanistin und Fernsehautorin Christiane Baumann hat eine Studie zur Geschichte des Neubrandenburger Literaturzentrums zwischen 1971 und 1989 geschrieben. Dabei hat sie dokumentiert, welchen Einfluss offizielle und inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR auf diese Kultureinrichtung hatten.

Das Echo auf ihren Artikel (Freitag 28/2004) war sehr kontrovers und reichte von Zustimmung bis zu harscher Ablehnung. Bei dem brisanten Thema kein Wunder. Das Fazit der Broschüre, die im Auftrag des Neubrandenburger Oberbürgermeisters entstand, ist niederschmetternd und bestätigt die Befunde vom letzten Jahr. Was ist das Echo des Literaturrates Mecklenburg-Vorpommern auf ihr Erscheinen? Nicht etwa Betroffenheit über die Verfilzung von Literaturbetrieb und Stasi, sondern Kritik an der Stadt Neubrandenburg, die eine "von ihr selbst in Auftrag gegebene und finanzierte "Dokumentation" (natürlich in Anführungsstrichen, d.A.) zur Geschichte des Literaturzentrums Neubrandenburg unkritisch in Umlauf gebracht hat, die jetzt benutzt wird, eine Institution zu beschädigen und am Ende gar zu zerstören, welche national wie international hohe Anerkennung erfährt". Interessant, dass dabei der Arbeit nicht nur die Wissenschaftlichkeit abgesprochen wird, sondern dass sie "der Denunziation Tür und Tor öffnet". Denunzierte Denunzianten? Ein merkwürdiges Verständnis von Öffentlichkeit und von der Realität des dem mündigen Leser gebotenen Materials.

Ganz abgesehen davon, dass Christiane Baumanns rund 100 Seiten lange Dokumentation vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern und vom dortigen Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes gefördert wurde (in den Augen der Kritiker offenbar obskure Institutionen des Klassenfeindes), hat die Autorin ihren Text sine ira et studio geschrieben. Die Quellen sprechen für sich. Peinlich wenn Meister des öffentlichen Wortes gleichzeitig im Geheimen Subtexte der Petzerei verfasst haben. Der Schriftsteller als serviler Zuträger. In Neubrandenburg ist das anscheinend kein Problem gewesen. Das Literaturzentrum verwaltet das regionale literarische Erbe im Wohnhaus der Schriftstellerin Brigitte Reimann, die bis zum ihrem Tod 1973 dort lebte. Außer ihrem Nachlass wird an gleicher Stelle auch den verstorbenen Schriftstellern Joachim Wohlgemuth und Franz Freitag ein Ehrenplatz eingeräumt. Logisch, dass nicht darauf hingewiesen wird, wie beide ihre Kollegin als IM´s bespitzelt haben. In Neubrandenburg scheint das in einen Topf zu gehören.

1968 war Brigitte Reimann in die Stadt gezogen, vier Jahre später eröffnete die Stasi gegen sie den Operativen Vorgang "Denker", da sie mit Menschen Umgang habe, die "nicht als sozialistische Persönlichkeiten" gewertet würden. Der Leiter des gerade gegründeten Literaturzentrums, Dr. Tom Crepon, ein ehemaliger Lehrer aus Teterow, wurde als IM "Klaus Richter" geworben. Sein erster Auftrag war es, eine Skizze vom Arbeitszimmer in der Wohnung Reimanns anzufertigen und herauszufinden, wo sich ihre Tagebücher befanden. Konnte diese Skizze für die heutige Gedenkstätte genutzt werden?

Christiane Baumann ist in ihrer Studie noch sehr diskret. So nennt sie den Schriftstellerspitzel, der berichtet, dass sein Kollege seine Unterwäsche nur im "Exquisit"-Laden kaufe und das Geld für seinen letzten Literaturpreis schon verbraten habe, nicht mit Namen. Geschichten aus der Provinz. Und zwar einer ebenso disziplinierten wie politisch keimfreien. Die Autorin vermutet zu Recht: "Offensichtlich entsprach es der politischen Überzeugung vieler IM, sich für die inoffizielle Berichterstattung zur Verfügung zu stellen". Sie führt es auf die Strukturen Neubrandenburgs zurück, wo sich Verwaltungs- und Sicherheitsschwerpunkte, militärische Standorte und Rüstungsindustrie konzentrierten. Das kulturelle Leben war ein Großversuch in der Retorte, ein Ergebnis gezielter Ansiedlungspolitik in den sechziger Jahren, als zahlreiche Schriftsteller und bildende Künstler nach Norden zogen, wo es gute, finanziell sichere Arbeitsbedingungen gab.

Unter den Neulingen war auch Brigitte Reimann. Ihre Kollegen im Bezirksvorstand des Schriftstellerverbandes Günter Ebert (IM "Neupeter") und Franz Freitag (IM "Hugo") waren auf sie angesetzt. Sie wurden wie Crepon zu bildenden Künstlern, als sie, unabhängig voneinander, auftragsgemäß Skizzen von Wohnung und vor allem Arbeitszimmer Brigitte Reimanns anfertigten. Das entsprach indes keinen innenarchitektonischen Interessen des Geheimdienstes, sondern diente erfahrungsgemäß der Vorbereitung von Hausdurchsuchungen. IM "Neupeter" erläuterte darüber hinaus auch die familiäre Situaition bei Reimanns: "Das Verhältnis zu ihrem Mann ist sehr undurchsichtig und auch abnorm." Seinem Führungs-IM mit dem schönen Decknamen "Freundschaft" berichtete "Neupeter": "Sie steht in engem Briefwechsel mit der Schriftstellerin Christa Wolf. Diese hat ihren jetzt erschienenen Roman ›Nachdenken über Christa T‹ mit einer Widmung geschenkt. Das ist ein schlechter Roman. Er verzerrt unsere Wirklichkeit."

Aber der inoffizielle Mitarbeiter, der ansonsten hauptsächlich Literaturkritiken im Bezirksorgan Freie Erde schrieb, will sich 1972 nicht länger mit Brigitte Reimann befassen: "Sie ist eine Nervensäge für mich. Jetzt habe ich das 13. Kapitel ihres Romans ›Franziska Linkerhand‹ begutachtet und ihr sagen müssen, dass der dort geschilderte Romanteil ein offener Angriff auf unseren Staat darstellt. Sie hat in diesem Teil einen Fall aus Leipzig verschlüsselt wiedergegeben, wo der Schriftsteller Loest eingesperrt wurde, weil er eine Listensammlung für die Frau eines Konterrevolutionärs veranstaltet hat. So etwas ähnliches macht ihr Held jetzt auch. Er unterstützt die Frau eines Republikflüchtigen und wird dafür 4 Jahre ins Zuchthaus gesteckt."

"Neupeter" konnte ab März 1973 die Nerven in dieser Sache schonen, weil er zur Beerdigung Brigitte Reimanns in Berlin seinen heimatlichen Horchposten nur noch mitteilen musste: "Christa Wolf war nicht erschienen. Die Trauerrede wurde von Gen. Sakowski gehalten. Sie war gut, aber etwas zu lang. Es gab auf der Trauerfeier keine besonderen Vorkommnisse. (...) Übrigens haben ausländische Trauergäste nicht an der Feier teilgenommen. Es wurde ein Kranz aus Holland abgegeben, auf dem 3 Namen standen."

Der Literaturrat Mecklenburg-Vorpommern mit Sitz in Rostock teilt in diesem Zusammenhang mit, "dass Stasiakten in vielen Fällen gerade nicht zur Wahrheitsfindung zu verwenden sind, und schon gar nicht ausschließlich, da sie Aussagen enthalten, die wiederum von der Subjektivität des Aufzeichners geprägt sind, oder gänzliche Erfindungen, die, freundlich ausgedrückt, den Eifer des Aufzeichners zu belegen hatten." Unter literarischen Aspekten gut beobachtet, ansonsten ein etwas romantisches Verständnis der historischen Ausgangslage, denn den Sicherheitsorganen war solch einfühlsame Charakterisierung des Materials, als sie noch an der Macht waren, ziemlich egal. Sie wendeten an.

Was Christiane Baumann am Schicksal vieler junger Schriftstellerinnen und Schriftsteller belegt, die in den siebziger und achtziger Jahren am Literaturzentrum "betreut" wurden. Als Beispiel mag der Fall der Annegret Gollin dienen, die als junges Mädchen in Zwickau damit begonnen hatte, Gedichte zu schreiben und daraufhin zum Schweriner Poetenseminar delegiert wurde. Anschließend wurde die Karl-Marx-Städter Schriftstellerin Gabriele Berthel offiziell mit der Betreuung von Gollins literarischer Tätigkeit betraut. Inoffiziell kundschaftete sie als IM "Sylvia" die interessante Karl-Marx-Städter Kunstszene aus. Gollin fasste Vertrauen zu ihr und zeigte ihr verbotene Texte von Reiner Kunze. Tom Crepon (IM "Klaus Richter"), der Gollin kannte, verifizierte ihr anonymes Gedicht Betonien. Aus beidem bastelte die Stasi eine Anklage gegen Annegret Gollin. Geheime Kronzeugen waren ihre literarischen Vertrauenspersonen Berthel und Crepon. Gollin erhielt eine einjährige Haftstrafe auf Bewährung. In dieser Zeit beschimpfte sie in einem Lokal einen Mann als "Stasi-Schwein" und kam anschließend für neun Monate in die berüchtigte Haftanstalt Hoheneck, bevor sie in die Bundesrepublik freigekauft wurde.

Es würde zu weit führen, sämtliche Beispiele der regen Stasitätigkeit am Literaturzentrum zu beschreiben. Wer sich dafür interessiert, soll sich die lesenswerte Fallstudie Christiane Baumanns ansehen. In einigen Statements zu deren Erscheinen wurde der Eindruck erweckt, die Autorin käme aus dem Westen und hätte deshalb wenig Ahnung von der beschriebenen Wirklichkeit. Aber Christiane Baumann stammt aus einer Gegend, die nur ein paar Dutzend Kilometer nördlich von Neubrandenburg liegt und kennt deshalb das Milieu. Wie übrigens auch der Autor dieser Zeilen, der in den siebziger Jahren seinen Wehrdienst in Fünfeichen bei Neubrandenburg absolvierte.

Inzwischen ist die Leiterin des Literaturzentrums Heide Hampel (IM "Jenny Brauer") von ihrem Amt zurückgetreten. Die Gefahr, dass derartige Enthüllungen politisch instrumentalisiert werden, mag bestehen. Man begegnet ihr am ehesten, indem man selbstkritisch das Geschehene und Verursachte analysiert. Das ist in Neubrandenburg bisher weitgehend unterlassen worden. Im örtlichen Nordkurier wurde dazu festgestellt: "Ein offensiver Umgang mit dem Thema würde einer Einrichtung mit Renommee auf jeden Fall besser zu Gesicht stehen als die Igelstellung." Wie wäre es mit einem Kolloquium über die hellen und dunklen Seiten des Zentrums, über den Umgang mit dem Erbe Hans Falladas, das ebenfalls in die Finger der Stasi geriet? Mit einem Streitgespräch zwischen Innen und Außen? Offenheit dient der eigenen Sache mehr als die Angst davor, dass etwas "nach draußen dringt." Inzwischen hat auch das deutsche PEN-Zentrum reagiert und eine selbstkritische Aufarbeitung der Geschichte des Literaturzentrums verlangt. Christiane Baumann hat mit ihrer Studie dazu einen wesentlichen Anstoß gegeben.

Christiane Baumann: Dokumentation. Zur Geschichte des Literaturzentrums Neubrandenburg 1971-1989. Schwerin/Neubrandenburg 2005, 116 S.


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