Rettet den Akkusativ!

Berliner Abende Es ist einer jener typischen Sommermorgen, wie wir sie in diesem Jahr so überreichlich genießen dürfen. Die Temperaturen haben bereits jenen Stand, ...

Es ist einer jener typischen Sommermorgen, wie wir sie in diesem Jahr so überreichlich genießen dürfen. Die Temperaturen haben bereits jenen Stand, der in früheren Zeiten den Abend eines langen heißen Tages schmückte. Dennoch greife ich am Wochenende zum gewohnten Zeitungspaket, das mir der türkische Verkäufer mit einem "Wie immer, 5,55 Euro, und schönen Sonntag noch" in die Hand drückt: Tagesspiegel, Morgenpost, Spiegel. Sprachlich am originellsten wie immer der Tagesspiegel. Weshalb er zuerst gelesen wird. Vielleicht arbeiten dort zahlreiche junge Menschen, die mit ihrem Deutschlehrer noch eine Rechnung offen haben oder so alte, die schon vergessen haben, wie man mit Grammatik und Syntax umgehen sollte.

Regte ich mich früher künstlich über idiotische Sprachbilder auf, wie Flieger statt Flugzeug, hat diese Erregung einem Lächeln Platz gemacht, wenn ich die sprachlich nicht verifizierbare Formel eines "Hallo wach" (Lieblingsausdruck verpennter Journalisten) oder "Mund apputzen" gelesen habe. Vor allem aber staune ich heute über grammatikalische Sünden höchster Kreativität. Neuestes Opfer von derlei Sprachschlampereien ist der Akkusativ. Vielleicht wurde alles mit dem siegestrunkenen Song "Es gibt nur ein Rudi Völler" eingeleitet. Die verbale Verwandlung des deutschen Fußballtrainers in ein allseits bewundertes Neutrum konnte ja noch witzig gemeint sein. Der Spaß hört allerdings auf, wenn ich beispielsweise den infantilen Satz lese: "Es gibt kein Grund an der Aussage des Bundeskanzlers zu zweifeln." Doch scheint das Verschwinden des Akkusativs "kein Menschen" aufzuregen. Da wir aber wissen, dass Energie nicht verloren geht, erhält der Genitiv anstatt seines Vierten-Fall-Bruders neuerdings reichlich Zuspruch, "entgegen des ursprünglichen Planes", "entlang des Flusses". Grauenhaft! Fast so schlimm wie der Apostroph bei Marx´ Schriften oder Grass´ Romane. Die Präposition Von? Leider ausverkauft. Kommt erst Ende diesen (!) Jahres wieder vorbei. Der Deutschlehrer Friedrich Denk aus dem Allgäu hat dies wohl alles kommen sehen und vergeblich vor dem Sprachchaos gewarnt, in dessen Dickicht sich künftig jeder verstecken kann. Auf meinem Schreibtisch liegt ein Konvolut der Nachrichtenagentur dpa, das mir den Unterschied zwischen Abfallrecycling (alt) und Abfall-Recycling (neu) erläutert. Es endet mit dem Unterschied zwischen zuwenig und zu wenig. Über das langsame Verschwinden des Akkusativs teilt dpa nichts mit.

Bin ich ein zu empfindlicher Leser? Oder ist alles Ergebnis einer Rechtschreibreform aus dem Jahre 1999, hinter der sich jeder Analphabet verschanzen kann? Reform aber ist das Unwort des Jahres. Wird irgendetwas abgeschafft, das gesellschaftlichen Nutzen brachte, nennen wir es neuerdings Reform. Werfen Gewerkschafter ihre Flächentarifverträge Unternehmern in den Rachen, dann sind sie? Richtig, Reformer. Journalisten lieben Reformer. Selten habe ich in jüngster Zeit so einfühlsame Texte gelesen wie über den zurückgetretenen IG-Metall-Chef Klaus Zwickel. Darf der Patient künftig beim Arzt Eintrittsgeld zahlen, hat er das selbstverständlich Reformern zu verdanken. Tritt dagegen jemand für seine Rechte ein, ist er ein reaktionäres Arschloch respektive Konservativer, der womöglich den Akkusativ noch kennt. Staatsgläubigkeit ist das Kainsmal von ewig Gestrigen, Privatgläubigkeit die Heilslehre unserer Tage. Gerade hat das Bonner Medienforschungsinstitut Medien Tenor die flüchtige und orientierungslose Politik-Berichterstattung der Berliner Republik kritisiert, ihre oberflächliche Personalisierung. "Wer heute ein Depp ist, darf morgen ein Star sein und umgekehrt." Da hat IG-Metall-Vize Jürgen Peters auch noch seine Chance. Wie Jan Ullrich, diese unbekannte Pflanze aus dem noch unbekannteren deutschen Osten, die solcher Haltung ihren zweiten Frühling verdankt. Oder sollten wir nicht doch lieber Neue Länder schreiben, eine Nachwende-Sprachschöpfung, die wir womöglich, ohne es genau zu wissen, Donald Rumsfeld verdanken. Auch der Kanzler fährt neuerdings in Gelb. Er stehe nicht mehr so stark in der Schusslinie, wie die Medienforscher mitteilen.

Glückliches deutsches Vaterland. In diesen Zusammenhang muss natürlich auch die RTL-Serie über die DDR gebracht werden, die im Herbst, rechtzeitig zum 54. Jahrestag des Arbeiter- und Bauern-Staates über den Sender geht. Endlich erfahren wir Ostdeutschen aus berufenem Mund (Peter Klöppel und Katharina Witt, das schönste Antlitz des Sozialismus), wie wir gelebt haben und warum. Das tut nicht weiter weh, denn der Mensch kennt den Spruch: Erinnerung versüßt. So werde ich hoffentlich nicht zu Tode erschrecken, wenn es demnächst aus einem der Nachbargärten laut ertönt: Es gab nur ein Walter Ulbricht. Ende der Durchsage.

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