Starke Brisen und Brisanzen

Medientagebuch Der Konjunktiv als Optativ: Schwärmt Angela Merkel für Oliver Kahn oder ist es umgekehrt?

So etwas hätten wir noch nicht gesehen, kündigt uns die Lissaboner ARD-Korrespondentin an. Die Kamera zeigt die Familie des portugiesischen Torhüters Ricardo. Die guckt sich zuhause das Spiel Portugal gegen England an. Vater, Mutter, Geschwister. Die Reporterin scheint aufgeregter zu sein als des Torwarts Anhang. Fußball in Zeiten medialer Hysterie. Ist doch eigentlich klar, dass wir die Familie Ricardo noch nie gesehen haben. Woher denn auch? Vergleichsweise Banales wird als Sensation verkauft und dadurch zusätzlich entwertet.

Da ist es mehr als tröstlich, wenn die "Wahrheit auf´m Platz" alle Reportersprüche und Ankündigungen aufs Schönste, und das in des Wortes Sinne, überholt hat. In seinem Text Dritte Halbzeit hat das der Berliner Volksbühnenintendant Frank Castorf in der Berliner Zeitung auf den Punkt gebracht. Fußball ist ein Geschehen von Wäre und Hätte. Hätte Ballack etwas entspannter auf das tschechische Tor geschossen, wäre der Ball wahrscheinlich drin gewesen. dann hätte der berühmte Knoten platzen können, und Deutschland wäre vielleicht weiter gekommen. Der Konjunktiv als Optativ. Aber weil der Konjunktiv in der Fußballberichterstattung längst ausgestorben ist ("Wenn Schulze den Ball reinmacht, gewinnen wir"), hätte Deutschland schon aus philologischen Gründen nicht gewinnen dürfen.

Unser Land ist ja stets von Schicksalsmächten gepeinigt. Wunder gibt es immer wieder nur im Schlager. Vielleicht hat das Schicksal längst die Nase voll von Deutschland und seinem elenden Gekicke. Im entscheidenden Spiel gegen Tschechien (B-Mannschaft, zweiter Anzug und andere dämliche Epitheta sollten den Betrachter wohl vergessen lassen, dass Karel Brückner immer mit 22 Mann gleichzeitig trainiert) rief der ARD-Reporter Beckmann derart hilflos: "Wo ist Schneider?", dass man geneigt war, an Hitlers verzweifelte Frage im Führerbunker zu denken: "Wo ist Steiner?". Das war jener SS-General, der Ende April 1945 mit seiner Truppe von Norden aus Berlin entsetzen sollte, es aber vorzog, Richtung Westen zu türmen. "Wir müssen gewinnen", barmte Beckmann ein ums andere Mal und tat das auch noch fünf vor Zwölf, als jeder halbwegs unbekloppte Zuschauer gesehen hatte, dass dieser deutschen Mannschaft nicht mehr zu helfen war. Auch nicht mit Durchhalteparolen, die sowieso keiner von ihnen hörte, am wenigsten der Mittelfeldrentner Hamann. Beckmanns mindestens mehrere Dutzend Male ausgestoßenen Jeremiaden ließen im Übrigen vergessen, dass auch das Fernsehvolk wusste, nur ein Sieg garantierte das Weiterkommen.

Schon am Nachmittag vor dem Spiel hatte ebenfalls in der ARD Monika Lierhaus die übliche Talktruppe um sich versammelt, darunter auch den scheinbar unvermeidlichen Hellmuth Karasek ("Einen berühmten Literaturkritiker hatten wir noch nicht"). Der teilte sogleich ungefragt mit, dass er auch über Fußball geschrieben habe. Aber worüber hat er noch nicht geschrieben. CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer meinte: "Deutschland ist im Ausnahmezustand, wir fiebern dem Spiel entgegen." Außerdem erfuhren wir von ihm, dass Angela Merkel für Oliver Kahn schwärmt. Ob auch umgekehrt, wer weiß. Ein Reporter sprach in der Sendung schon ganz aufgeregt von Rudi Möller, dabei trat Völler erst am nächsten Tag als Nationaltrainer zurück, womit er den in der Sendung geäußerten Satz bestätigte, dass der Bundestrainer wichtiger sei als der Bundeskanzler. Nachdem Lierhaus Karasek mit der Frage beschenkte: "Was sagt der Schöngeist dazu?", war es Zeit umzuschalten.

Und wo bleibt das Positive? Dass Bela Rethy für das ZDF das Endspiel kommentierte und nicht Johannes Baptist Kerner. Der ist zwar nach einer Emnid-Umfrage für die Programmzeitschrift TV-Today der mit Abstand beste Kommentator der Fußball-EM 2004 gewesen, mit 39 Prozent Zustimmung bei den Zuschauern, vor Beckmann mit 20 Prozent. Da möchten wir aber mit Churchill antworten, traue nur den Statistiken, die du selbst gefälscht hast. Das Halbfinale Portugal gegen die Niederlande sah ich in einer Den Haager Kneipe. Der Gasthauslärm und der holländische Reporter sorgten dafür, dass ich mich ohne Kommentierung ganz auf das Spiel konzentrieren konnte.

Fehlen noch die unterhaltsamen Nachspielbewertungen von Günter Netzer und Gerhard Delling in der ARD. Sie waren meist anhörenswert, das Team schien eingespielter als die deutsche Mannschaft. Aber der von ihnen im Sommer 2003 so zusammengefaltete Ex-Trainer Völler bleibt populär. In Wetten, dass... erklang das Lied "Es gibt nur ein Rudi Völler". Komisch, dass es niemanden stört, wie schon in der ersten Zeile Sportsmann Völler zum Neutrum erklärt wird. Sprache arbeitet. Weshalb die Zeitung Deutsche Sprachwelt empfiehlt, die EM-Fernsehkommentatoren aufgrund verbaler Fehlleistungen auszuwechseln. Warum die Linguisten allerdings den zu häufigen Gebrauch von Anglizismen als Grund für den Rausschmiss nennen, bleibt rätselhaft. Das schlechte Deutsch sollte doch reichen. Schön war die junge Reporterin, die sich aus irgendeinem portugiesischen Stadion mit der Auskunft meldete, dass dort schon "eine gewisse Brisanz" herrsche. Betonung von Brisanz auf der ersten Silbe. Darauf lässt sich aufbauen.

Ansonsten hat es wohl noch nie bei einem Fußballgroßereignis ein derartiges Medienecho gegeben. Und wahrscheinlich haben wir auch noch nie so viele Spiele im Fernsehen genossen, durchlitten oder verschlafen. Benjamin Henrichs hat in der Süddeutschen Zeitung sogar einen Text über den in Portugal abwesenden Nationalspieler Ramelow verfasst, hat dessen graue Diffusität als Material eines Tschechowschen Stückes für würdig befunden. Platonow, Ramelow und so weiter. Der Fußball schlägt große Räder.


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