Sterben vor dem Leben

Stille Post Kolumne

Die Grabsteine auf dem Soldatenfriedhof im märkischen Halbe sind klein und unscheinbar. Sie liegen in langen Reihen wie Holzscheite im Kiefernwald. Mal sind es 70 unbekannte Soldaten, die dort unter einem Stein bestattet sind, mal ist es ein namentlich bekannter Gefallener. Unter den Begrabenen überwiegen die Jahrgänge 1927, 1928 und 1929. Das letzte Aufgebot, das von Hitler verheizt wurde. Sterben vor dem Leben. Viele der Jungs stammten aus dem nahen Berlin. Das unbedeutende Dorf Halbe ist dadurch bekannt geworden, dass in ihm und in seiner Umgebung die letzte Kesselschlacht des Zweiten Weltkriegs blutig ausgekämpft wurde.

Eigentlich war es ein Kesselschlachten. Nachdem die 9. Armee unter General Theodor Busse Ende April viel zu spät am Brückenkopf Frankfurt/Oder den Rückzugsbefehl erhielt, zogen ihre Divisionen - oder was von ihnen übrig geblieben war - in den Südosten von Berlin. Im Tross viele Zivilisten, Frauen und Kinder. Die Armee bildete mit ihren rund 140.000 Mann einen so genannten wandernden Kessel, unter sorgfältiger Beobachtung der Roten Armee, die bereits in Berlin stand. Busses 9. Armee und Wencks gerade bei Dessau neu aufgestellte 12. Armee sollten nach Wunsch und Befehl des Führerhauptquartiers "Berlin entsetzen". Eine wahnhafte Idee der letzten Bunkertage. Bei Halbe schnappte die Falle der Sowjetarmee zu, den deutschen Truppen stand keine Himmelsrichtung mehr frei.

Die Armee Wenck, diese letzte Wunderwaffe der Endsiegfanatiker, hatte bei Potsdam ihren ersehnten Marsch auf Berlin beendet, sie hielt Riegelstellungen, weil sie über Funk erfahren hatte, dass Teile der 9. Armee aus Halbe ausbrechen wollten. Richtung Westen, um nicht in russische Kriegsgefangenschaft zu geraten. Zwei Armeeführer hatten sich fünf vor Zwölf Hitlers Befehlen widersetzt. Als der am 29. April davon erfuhr, bereitete er seinen endgültigen Abgang aus der Weltgeschichte vor.

Man fragt sich, was Neonazis dazu treibt, diese realistische Haltung zweier Generäle und die Schrecknisse der Blutmühle Halbe zum Heldengedenken umzuwidmen. Was war so heldenhaft an dem verzweifelten Versuch übrig gebliebener Landser, todmüder Volkssturmleute und fanatisierter Jugendlicher, dem Inferno Richtung Westen zu entkommen? "Die Vergangenheit strömt in hundert Wellen in uns fort", heißt das bizarre Motto des geplanten Aufmarsches zum Volkstrauertag am 17. November. Als Pflichtgesänge werden Das Lied der Deutschen, Wenn alle untreu werden, Ein junges Volk steht auf und Ich hatt´ einen Kameraden vorgegeben. Weniger heroisch geht es beispielsweise im Bericht eines Augenzeugen zu: "Im Ort ein völliges Durcheinander von Fahrzeugen, Landsern und Zivilisten. Russische Granaten krepieren buchstäblich auf den Leibern der Menschen."

Meinen Schwiegervater (Jahrgang 1924) hatte es als jungen Leutnant gleichfalls nach Halbe verschlagen. Die Leichen hätten bis zur ersten Etage der Häuser hoch gelegen, erzählte er später. Seine Panzergruppe, die sich zur Elbe durchschlagen wollte, wurde bei Luckau gestellt. Er geriet in Gefangenschaft, zählte wochenlang Reichsmarkscheine und kam nach Kalinin. Als er nach Jahren wieder vor seinem Geburtshaus stand, sagte seine Mutter zu ihrem Mann: "Da unten ist einer, der behauptet, Karl Walter zu sein."

Wenn Halbe und sein Soldatenfriedhof sich überhaupt zu etwas eignen, dann dazu, eine Mahnung davor zu sein, was nationaler Hochmut und rassistische Verblendung anrichten können. Wie hätte wohl mein Schwiegervater, der durch Krieg und Gefangenschaft sieben Jahre seiner Jugend verlor, darauf reagiert, dass Ewiggestrige und verbohrte Jugendliche seinen verzweifelten Überlebenswillen als Heldentat würdigen wollen? Wahrscheinlich hätte er, der wie viele seiner Generation kaum über den Krieg sprach, an seine unglücklichen Kameraden gedacht, die das Ende des Schlachtens nicht erlebten. 30.000 deutsche Soldaten und 10.000 Zivilisten sind bei Halbe getötet worden. Die russischen Toten hat keiner gezählt.


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