Seit einigen Tagen fahren durch Berlins Straßen Autos mit kleinen Deutschlandfahnen, meist Kastenwagen von Handwerksbetrieben. Es weht Schwarz-Rot-Gold. Während sich das deutsche Team langsam, aber sicher aus einem fast einjährigen Formtief herausquält, ist zwischen Ostsee und Alpen eine Art patriotische Stimmung herausgemendelt worden. Sport-Bild, die Betriebszeitung des FC Bayern München, hat beispielsweise die Zahl jener deutschen Spieler registriert, die bei der Nationalhymne mitsingen. Und siehe - bis auf Podolski und Huth - haben alle einen unterschiedlich intonierenden Chor gebildet. "Frings bewegte nur die Lippen", hat das Fachblatt allerdings sogleich ermittelt. Die Zählerei erinnert ein bisschen an ostdeutsche Zeiten, als der Lehrer kontrollierte, wer im Blauhemd zur Maidemonstration erschien, und vor allem, wer nicht. Gemütlich soll es sein im Kreise der Gleichgestimmten, sonst wird´s ungemütlich.
Vielleicht wirkt deshalb die patriotische Hitzewelle, die derzeit das Land überzieht, so verkrampft. Wenn Ballack oder Schweinsteiger ein Tor machen, wenn Lehmann eins verhindert, schreit es im Stadion: "Steht auf, wenn ihr Deutsche seid". Und wenn wir sitzen bleiben? "Die Deutschen werden ihre Geschichte nicht los", hat der Zeit-Redakteur Gunter Hofmann in einer Fernsehdebatte zum Thema Fußball und Nationalstolz treffend gesagt. Wenn man in Deutschland dazu übergeht, "gesunden" Nationalismus zu leben, schlägt die Stunde der Heuchelei und Verdrängung. Fußball war dabei stets der Seelenarzt für das geschundene Selbstbewusstsein. Als Fritz Walter und seine Mannen 1954 im Berner Wankdorf-Stadion überraschend Weltmeister wurden, freute sich die Heimat zwar auch über den sportlichen Erfolg, aber sogleich trompetete sie: "Wir sind wieder wer."
Über diesen hymnischen Satz, der bis heute als Mantra bundesrepublikanischer Selbstwerdung stereotyp wiederholt wird, kann man sich nur wundern. Ausdruck eines gelassenen Selbstbewusstseins ist er eher nicht. Nach der Logik derartiger Erfolge hätte die DDR 1974 nach ihrem Hamburger Erfolg über die Bundesrepublik sagen müssen, wir sind auch wer. Sie hat es sich zum Glück verkniffen. Tröstlich wie amüsant ist es, dass die leidenschaftlichsten Gralshüter des neuen Germanien damals noch Maoisten und Trotzkisten waren. Heute sprechen sie von ihrer Deutschwerdung, wie der Spiegel-Redakteur Matthias Matussek, der in seinem jüngst erschienenen Buch Wir Deutschen. Warum uns die anderen gern haben können öffentlich den Gedanken wagt, dass Hitler ein "Freak-Unfall" war.
Jenseits solcher Erweckungsformeln verläuft die Fußballweltmeisterschaft womöglich weniger patriotisch, als mancher befürchtet oder erhofft. Fußballfans haben in erster Linie ein Auge für gute Spieler und spannende Spiele, egal wer sich gerade auf dem Rasen gegenübersteht. Nach solcher Logik hätte eigentlich die Mannschaft der Elfenbeinküste den Titel verdient, die noch kurz vor WM-Beginn Slowenien mit 3 : 0 abfertigte. Auch Iran wäre ein interessanter Kandidat. Wie man hört, fürchten die Mullahs nichts mehr als einen Erfolg ihrer Mannschaft. Die Angst scheint begründet, denn eine Jubelparade Teheraner Fußballfans, männlicher wie weiblicher, könnte schnell außer Kontrolle geraten.
Es bleibt zu hoffen, dass der Internationalismus stärkere Argumente hat als jedweder Nationalismus. Dass der runde Ball ein friedliches Symbol für den Erdball wird, wenigstens für einige Wochen. Ganz im Sinne des Kulturchefs der Spiele, André Heller, der meint, "wenn Fußball gespielt wird, bricht eine andere Art von Generalstimmung aus". Leider wird der Osten Deutschlands wenig Gelegenheit haben, sich an dieser Stimmung zu beteiligen. Er ist zu einer Art No-Go-Area geworden, weil sich außer einigen Spielen in Leipzig und dem Quartier der Ukraine in Potsdam alles im Westen abspielt. Das ist öffentlich mit der politisch-korrekten Häme registriert worden. Da hilft es wenig, wenn selbst der US-Botschafter Timken vor einer Stigmatisierung Ostdeutschlands warnt.
An jenem Tag, als in Potsdam ein deutsch-äthiopischer Ingenieur von zwei Schlägern lebensgefährlich verletzt wurde, kam in Essen ein Mann aus Sri Lanka unter die Fäuste Rechtsradikaler, wurde eine junge Rollstuhlfahrerin unter den Augen Unbeteiligter in Aachen von zwei Hooligans zusammengeschlagen, verstümmelten Jugendliche in München die Leiche eines Selbstmörders. Die letzten drei Vorfälle waren Meldungen für den Lokalteil. Sie schienen nicht geeignet für eine Debatte über zunehmende Gewalt in Deutschland. Vielleicht hat es den jungen Mann aus Sri Lanka und die junge Frau aus Aachen wenigstens getröstet, im besseren Teil Deutschlands halbtot geschlagen worden zu sein.
Übrigens steht bei Umfragen in Deutschland die Redlichkeit in der Rangliste der Grundhaltungen auf dem ersten Platz, Nationalbewusstsein auf dem letzten. Vielleicht werden wir ja Weltmeister. Wenn es durch gute Spiele verdient wurde, soll es mich freuen.
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