Tour de Télé

MEDIENTAGEBUCH Frankreich ist schön. Schön grün«, berichtet der Fernsehreporter während der Marathonübertragung von der Tour de France. Dem ist rein zuschauermäßig ...

Frankreich ist schön. Schön grün«, berichtet der Fernsehreporter während der Marathonübertragung von der Tour de France. Dem ist rein zuschauermäßig nicht zu widersprechen. Wir fahren vor dem Bildschirm fast drei Wochen durch das Nachbarland, und da ist solche Plattitüde verzeihlich. Zumal in Frankreich die Sonne scheint und bei uns nicht. Mal sehen wir die Radfahrer von hinten, mal fährt das Kamerakrad halsbrecherisch am Peleton vorbei, dann wieder bringt uns der Hubschrauber die Totale ins Haus, damit wir beobachten können, wieviel Abstand zwischen Spitzengruppe und Hauptfeld liegt. Eine Rundumversorgung für denjenigen, der gerne auf die Glotze schaut in der Hoffnung, dass sich dort etwas bewegt, dessen Ende nicht genau zu bestimmen ist. Siegt im Spurt Erik Zabel oder Marcel Wüst? Aber bevor es soweit ist, sagen Hagen Boßdorf und Herbert Watterodt für die ARD beziehungsweise Rudi Cerne und der alte Tour-Haudegen Rolf Goeltz für das ZDF auf, was sie uns über diese Fernfahrt mitzuteilen gedenken. Das sind viel Radsportstatistik und Reiseführerwissen versammelt. Burgen werden erklärt und die Geschichte kleiner Städte in der Landschaft Aube. Für die Trinker unter uns ergeht der Hinweis, dass die bunte Schlange der über 100 Radler gerade durch jene Rebenlandschaft rollt, aus der der Pinot noir stammt.

Die Fahrer kriegen von alldem sowieso nichts mit, sie starten Ausreißversuche oder stopfen sogenannte Löcher zwischen Hauptfeld und Wegsprintenden. Alles kann unser Auge protokollieren, wenn es Lust dazu hat. Beispielsweise die artistische Übernahme von Trinkflaschen, die den Dahinjagenden aus einem Begleiterauto gereicht werden und die die Fahrer in einem Gürtel auf dem Rücken verstauen. Rad sport ist in erster Linie eine Sache der Verpflegung und der Flüssigkeitsaufnahme. Die Einnahme von Dopingmitteln geschieht off the records und kann deshalb nur vermutet werden. Sportler, die bei der Ziel ankunft meist im hinteren Drittel liegen, vermuten öffentlich, dass die Sieger unerlaubte Substanzen zu sich nehmen. Beispielsweise stellt die Mapei-Mannschaft fest, sie sei deshalb nicht im Vorderfeld über Alpen und Pyrenäen gestapft, weil sie eben clean sei. Was sollen der Gelbe Lance Armstrong, der Grüne Erik Zabel, was sollen Jan Ullrich und Marco Pantani mit solcher Kollektivverdächtigung anfangen? Sie treten und schweigen. Oder sie reiten spektakulär über die Zweitausender wie Pantani, der angesichts der Steigungen von über zehn Promille einen regelrechten Spurtanfall kriegt und wie ein Floh wegspringt, womit er die anderen, außer Armstrong, demoralisiert. Das sind dramatische Minuten der Direktübertragung. Alles fängt die Kamera für uns ein. Auch als er bei der letzten mörderischen Alpenetappe wie ein Verrückter losrast und am Ende nach hinten durchgereicht wird. Einen Giganten der Landstraße hätte ihn das alte DDR-Fernsehschlachtross Heinz Florian Oertel in seiner blumenreichen Sprache genannt. Niemand konnte das obligatorische Zeitfahren bei der Friedensfahrt so schön als contre la montre aussprechen wie er.

Apropos Zeitfahren. Das ging dieses Jahr von Freiburg ins elsässische Mülhausen, und die Reporter fingen am Vortag wieder an, am wortkargen Jan Ullrich herumzukauen, ob er denn eine Chance sähe, im Kampf gegen die Uhr Zeit auf Armstrong gutzumachen. Ullrich antwortete genervt und nicht unwitzig: »Wollen wir doch nicht schon wieder im Vorfeld Bilanz ziehen.« Kaum zu vermuten, dass er im pluralis maiestatis sprach. Aber es nutzte ihm nichts. Ullrich ist der bad boy sämtlicher Fernsehreporter, die stets den Eindruck vermittelten, ein zweiter Platz beim größten Radrennen der Welt sei der sportliche Supergau. Der schweigsame, immer etwas dröge Mecklenburger, der fürs Fahren und nicht fürs Quatschen bezahlt wird, erfreute sich der fürsorglichen Belagerung bundesrepublikanischer Volkspädagogik. Als er auf der zweiten Alpenetappe viel Zeit gegenüber Armstrong verlor und der Dritte im Klassement, der Spanier Beloki, bis auf zwei Sekunden an ihn heran war, ging ein triumphierendes wie kollektives Aufheulen durch die Kanäle: Wir haben's gewusst, wir haben's gewusst. Der kann es nicht, der frisst zuviel und trainiert zuwenig im Winter. Der Zoni als Versager an sich. Am nächsten Tag holte Jan Ullrich couragiert auf und nahm Armstrong wieder zwei Minuten ab. Machte nichts. Er musste sich auf einer Presskonferenz öffentlich beknirschen und versprechen, im nächsten Jahr nicht so viele Pfunde anzuhäufen, bevor ihm zögernd Absolution erteilt wurde.

Aber in Paris war dann alles gut, das Fernsehen zeigte das Fahrerfeld, als es gemütlich und winkend wie bei einer Stadtrundfahrt dahinrollte, während uns bei einer sogenannten Kulturtour mitgeteilt wurde, dass gerade der Eiffelturm im Bild erscheine und dass das Hôtel de Ville kein Übernachtungskasten, sondern ein Rathaus sei, das 1871 ausbrannte, um anschließend wieder aufgebaut zu werden. Der Redakteur verabschiedete sich seltsamerweise nicht mit einem Sport frei, sondern mit der Parole »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«. Die ausgebrannten Fahrer dagegen stiegen nach über 3.000 Kilometern vom Rad, um sich für nächste Großereignisse wie die Olympiade in Sydney aufzubauen. Worauf sich alle Fernsehreporter mit uns freuen, falls sie hinfahren dürfen.

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