Tunnelblick

CDU Von der Aufklärung zur Verklärung

In seinem 1930 geschriebenen Essay Einige Beobachtungen über die Masse hat der Maler Werner Heldt die beiden CDU-Parteitage vom vergangenen Wochenende in Hessen und Berlin präzise charakterisiert: »Alleinsein ist gegenwärtig nicht in Mode. Nichtalleinsein, Bundesgenossen haben, einer Majorität, einer Partei angehören, das ängstliche Herzchen, das schlafbedürftige Hirnchen vertrauensvoll in die Hände einer von der Mehrheit approbierten Autorität legen, Fragment sein eines Trümmerhaufens (...), das macht frei zum Leben auf Kosten des Lebens.« Die wiedergewählten Landesvorsitzenden Koch und Diepgen erzielten nämlich Ergebnisse, die sie zwar selbst als traumhaft, Außenstehende eher als alptraumhaft empfinden. Vor allem in Hessen sind die 97,6 Prozent für den skandalumwitterten Ministerpräsidenten Ausdruck eines real existierenden Fatalismus und eines entschlossenen »Weiter so.«

In der Ophtalmologie spricht man vom sogenannten Tunnelblick, wenn sich das Gesichtsfeld immer weiter verengt, am Ende dieser Krankheit steht die völlige Erblindung. Augen zu und durch, lautet die entsprechende Metapher in der Politik. Weshalb Roland Koch die Millionenbetrügereien von Kanther und Sayn-Wittgenstein aus dem Reich der Wirklichkeit in das der Virtualität schieben möchte. Der aufgedeckte Stoff passe eher für einen Roman als für das Leben, versuchte er der Sache etwas Wertvolles abzugewinnen. Da ist sie wieder, die fatale Neigung von Politikern, ihren phantasielosen Durchstechereien den Glanz von Kunst und Literatur zu verleihen. Balzac lässt grüßen. Koch warnte seine Parteifreunde vor allem vor den Medien, die »mit ihrer Herrschaft der Kameras« eine »virtuelle Welt« erzeugen würden. Wobei er vermutlich nicht an das lateinische Wort virtus dachte, das Tugend heißt. So wie Eberhard Diepgen, als beim Parteienskandal von einigen Idioten sprach, die das Ansehen der CDU runinierten, wohl nicht an die ursprüngliche Bedeutung des altgriechischen Wortes dachte: Privatmann oder Räuber.

Die Kohlnachfolgepartei befindet sich inzwischen auf dem Weg von der Aufklärung zur Verklärung. Das ist eine historisch abgesicherte Analogie. Es war doch nicht alles schlecht, hören wir das einfache CDU-Mitglied murmeln und haben ein deja-vu-Erlebnis. Wer neuer Parteivorsitzender und wer neuer Fraktionschef wird? Kohl soll endlich die Namen nennen, rumort es entschlossen an der Basis. Und wir bedienen uns gerne aus dem DDR-Spruchbeutel für die Beschreibung des virtuellen Zustands dieser Partei, die »keine Jakobiner braucht« (Koch): »Es bleibt alles ganz anders« beziehungsweise »Wo wir sind, ist vorn, und wenn wir hinten sind, ist hinten vorn.«

Auch der Wahlkämpfer Rühe, der in Schleswig-Holstein eine individuelle Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für ältere Bürger betreibt, hat im Ringen um den Chefjob der Kohlnachfolgepartei Anleihen bei der SED genommen, die in den schlimmsten Jahren der Stagnation gern über die Dialektik von Kontinuität und Erneuerung sprach. Jeder wusste, dass lähmender Stillstand gemeint war. Elias Canetti hat in seiner Schrift »Macht und Überleben« den essentiellen Kern der Politikerexistenz präzise beschrieben: »Der eigentliche Inhalt dieser Macht ist die Begierde, massenhaft Menschen zu überleben.«

Dieses Credo lässt auch Helmut Kohl seine Chance, der vermutlich nach einigen Unpässlichkeiten wie der Befragung vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss und der Staatsanwaltschaft Bonn zumindest bei den eigenen Anhängern noch zu einer gewissen Form auflaufen dürfte. Alles scheint möglich in der virtuellen Welt. SED-Parteitagswahlergebnisse sind nur der äußere Aspekt dieses Wunsches nach Geborgenheit.

Edmund Stoiber, der Unionskanzlerkandidat für das Jahr 2000, hat das längst erkannt. Seine Forderung nach konservativen Werten hat Zukunft. Eine Zukunft, in der die politische Raumpflegerin mit den zwei linken Händen nicht nur ihren Arbeitskittel, sondern auch ihre Hoffnung auf den höchsten Posten der CDU an den Nagel hängen kann. Angela Merkel ist die Kandidatin des Übergangs vom selben Zustand in einunddenselben. Das könnte eine beruhigende Botschaft sein für den Fall, dass wir nicht an einen Satz aus dem eingangs zitierten Text Werner Heldts denken müssten: »Ein Schiff, dessen Passagiere im Augenblicke der Gefahr alle auf dieselbe Seite laufen, kentert leicht.« Eine interessante Botschaft für Backbord wie Steuerbord unserer beiden Volksparteien.

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