Vorausschauender Rückblick

DIE BERLINER JAHRHUNDERTKUNSTAUSSTELLUNG KONSTATIERT The game is over

Am 12. September vor 85 Jahren schrieb der Maler Franz Marc von der Front an seine Frau Maria: »Ich denke so viel über diesen Krieg nach und komme zu keinem Resultat; wahrscheinlich, weil die ›Ereignisse‹ mir den Horizont versperren. Man kommt nicht über die Aktion hinweg, um den Geist der Dinge zu sehen. Jedenfalls macht der Krieg aus mir keinen Naturalisten, - im Gegenteil: ich fühle den Geist, der hinter den Schlachten, hinter jeder Kugel schwebt, so stark, dass das Realistische, Materielle ganz verschwindet.« Marcs Versuch, das Grauen des Ersten Weltkrieges künstlerisch zu verarbeiten, diesen Zivilisationsbruch theoretisch zu fassen, beschreibt eine Haltung zur ungebrochenen Weiterarbeit. Andere, wie Beckmann, meinten, dass dieser Krieg ihnen künstlerisch zu fressen gebe, dass aus den Materialschlachten der Schützengräben Material für ihre Arbeit entstünde. Wieder andere wie der junge Maler Otto Niemeyer-Holstein wurden im Trommelfeuer der Front nervenkrank.

Es ist klar, dass ein Projekt wie die Berliner Ausstellung zur Kunst dieses Jahrhunderts die beiden Weltkriege als Zäsur setzen muss. Vorkrieg, Krieg und Nachkrieg in all ihren Folgen haben schließlich die Kunstproduktion bestimmt, so dass es logisch erscheint, wenn der vom Generaldirektor der Staatlichen Museen, Peter-Klaus Schuster, zu verantwortende Part der dreiteiligen Schau unter dem Motto »Die Gewalt der Kunst« steht. Schusters geniale Kopfgeburt im Alten Museum untersucht in ebenso strenger wie kontradiktorischer Auswahl das Verhältnis der politischen und sozialen Bewegungen des Säkulums zu den Reaktionen der bildenden Kunst, seien sie zustimmend, im Widerspruch oder scheinbar fern von den Ereignissen des Tages. Schuster ist es dabei gelungen, das ausgesuchte Material ästhetisch zu klammern, so dass der Gang durch die Geschichte des Jahrhunderts ebenso spannungsreich wie erhellend verläuft. Dabei ist es natürlich kein Zufall, dass für den Beginn Arnold Böcklins 1883 gemalte Toteninsel steht und für das Ende jener transitorische, in grelles Licht getauchte völlig leere Museumssaal von Gerhard Merz. Während Böcklins Insel, ein gleichfalls abstrahierter Ort, am Ende des Lethestroms als Ort der Nimmerwiederkehr liegt, hat sich dieses Motiv bei Merz in eine Gestalt des Abschieds begeben, die dem Bild nicht mehr traut. Zwischen diese beiden Eckpunkte setzt Peter-Klaus Schuster das blutige Jahrhundert der Ideologien und Verheißungen und zeigt an überzeugenden Beispielen das Echo der Künstler. Schnell verbrennt die Ekstase der Expressionisten von Brücke und Blauem Reiter im Stakkato der Geschütze. Kanonisierung aus Kanonen? Manchmal hat es den Anschein, als habe zu Beginn des Jahrhunderts die Kunst den Rhythmus bestimmt, als habe sie in ihren besten Darstellungen das tatsächliche Leben durch Überformungen und Überhöhungen noch vitalisiert. Beispiele gibt es dafür in der Ausstellung genügend, Ernst Ludwig Kirchners Potsdamer Platz, Emil Noldes Tanz um das goldene Kalb und Ludwig Meidners apokalyptische Visionen der Stadt. Aufgenommen in den gemalten Schreien über den Krieg, dem Selbstbildnis von Otto Dix als Soldat, in Max Beckmanns Bild Die Nacht und in der fiebrigen Metropolis von George Grosz. Am eindrücklichsten aber vielleicht in den beiden Lehmbruck-Plastiken, dem Emporsteigenden Jüngling von 1913 und dem Gestürzten 1915/16.

Bei seinem Rundgang durch das Jahrhundert hat Schuster im Kapitel »Die Ästhetik der Macht« die Verbindungen zwischen künstlerischer Avantgarde und Totalitarismus vielfältig untersucht. Mit den ausgewählten Beispielen sind die Funktionsweise und das Funktionsverständnis von Kunst im Dritten Reich gut sichtbar geworden. Die Exponate dieser negativen Modernisierung reichen vom zerstörten Hitlerporträt als Ritter bis zur zeitlosen Karosse des Volkswagens. Auch für den Neubeginn nach 1945 findet Schuster für beide Teile Deutschlands gute Bilder, Werner Tübkes Zyklus der Erinnerungen des Dr. jur. Schulze, der bildnerischen Auseinandersetzung mit einem Nazijuristen, Willi Sittes zwei frühe, an Picasso geschulte Werke sowie das ebenfalls in Auseinandersetzung mit französischen Vorbildern entstandene Bild Die Trompete (1956) von Harald Metzkes. Werke von Georg Baselitz, Eugen Schönebeck und Markus Lüpertz lassen deutlich werden, wie ostdeutsche und westdeutsche Nachkriegskunst gleichermaßen vom geschichtlichen Raum determiniert, wie in ihren Arbeiten die Katastrophe des Faschismus nachklingt, wenn man beispielsweise an Schönebecks 1965 entstandene Arbeit Der Rotarmist denkt. In seinem Exkurs hat sich Schuster nicht auf den Streit zwischen Realisten und Abstrakten eingelassen, wie er zu Beginn der fünfziger Jahre aufs heftigste geführt wurde und bis auf den heutigen Tag geführt wird. Gerade stellte ein ARD-Fernsehbericht über die Ausstellung am Beispiel von Tübkes Arbeiten fest, wie hermetisch der Osten von der Moderne abgeschnitten gewesen sei. Dabei sind die Lebenserinnerungen des Juristen als »klassisches« Simultangemälde von der Moderne inspiriert, weshalb sie in den sechziger Jahren auch mit entsprechender Härte von den SED-Realismus-Formalisten angegriffen wurden.

Die im Alten Museum gezeigte Auswahl muss wie die beiden anderen Teile der Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie und im Hamburger Banhof subjektiv sein und deshalb Vieles wie Wichtiges weglassen, weil sie sonst ins Uferlose gehen würde. Dennoch fragt man sich, warum Käthe Kollwitz in dieser Schau mit keiner einzigen Arbeit vertreten ist. War sie für die Auswählenden reines 19. Jahrhundert? Zu den Vermissten zählen für mich auch Karl Hofer und Max Liebermann. Wenn es um die Gewalt der Kunst geht und um Kunst in Zeiten der Gewalt, hätte in der Nachkriegsabteilung auch das Tritychon Hans Grundigs nicht fehlen dürfen. Generell zu kurz gekommen ist in allen drei Abteilungen die Plastik. Ein kleiner Barlach, die schon erwähnten Arbeiten Lehmbrucks, die allerdings unter Platznot leiden, sowie Arbeiten von Breker und Kolbe sind beinahe alles, was das Alte Museum hingestellt hat, die Straßenbahnhaltestelle von Beuys nicht zu vergessen, aber in den weiten Räumen der Neuen Nationalgalerie hätten sie unter dem vorgegebenen Motto »Geist und Materie« kontrastierend zu den Gemälden wirken können. Ursprung des Leitmotivs für den Mies-van-der-Rohe-Bau ist Wassili Kandinskys 1911 gestellte Frage:»Ist alles Materie? Ist alles Geist?« Solcherart Vergeistigung sucht die Seele sogar noch in den frühen Röntgenbildern des Jahrhunderts, die ebenfalls gezeigt werden, und in den vielen, teilweise abgeklärt wirkenden Arbeiten von Yves Klein, Franz Marc, August Macke, Paul Klee, Lyonel Feininger, Willi Baumeister, Piet Mondrian und Josel Albers. Als Urvater dieses zuweilen etwas anthroposophistischen Exkurses scheint Caspar David Friedrich zu gelten, der mit seiner Abtei im Eichwald vertreten ist. Die stete Vergeistigungslinie, die einer solchen Präsentation innewohnt, kann leicht zu Übermüdungserscheinungen führen, zumal einige Künstler einfach zu oft in additiver Reihung vertreten sind. Hatte Schuster gerade durch Verknappung Wirkung erzielt, entsteht in dem von Angela Schneider zu verantwortenden Teil Leere durch Überfüllung. Als ob Sighart Polke, gleichfalls reich vertreten, Pate gestanden hätte für das Motto: Hohe Säle führten zu den Zwängen, große Bilder aufzuhängen.

Lichtblicke der Abteilung sind die sinnlichen, präzisen Farbkompositionen Kandinskys, der damit seine Frage beantwortet, indem er das Materielle vergeistigt und den Witz materialisiert, und die Wand mit den asketischen Blättern des Konstruktivisten Hermann Glöckner, die den Ausstellungsrundgang zu einem Lehrgang über die Reduktionen der abstrakten Kunst in das Reich der Wahrnehmung werden läßt.

Und wenn es in der Neuen Nationalgalerie um das Verhältnis von Geistigem und Materiellem geht, triumphiert im Hamburger Bahnhof das Material. Eugen Blume und Roland März haben zum Thema CollageMontage überzeugende Arbeiten gefunden, die das Jahrhundert der Aufbrüche und Umbrüche unter einen Satz von Claude Simon gestellt haben: »Aber das Interessanteste sind doch die Zusammenbrüche. Alle geistigen Systeme, alle Ideologien sind in diesem Jahrhundert zusammengebrochen. Es war das Jahrhundert der Monster. Alles in diesem Jahrhundert war monströs. Alles ist explodiert. Die Formen, die Farben, Schwitters, die Collagen... und überhaupt, der Gegenstand ist verschwunden, überall in der Literatur und in der Malerei, die erzählte Geschichte, die gemalte Figur, alles ist in Fragmente zerfallen.« Diese Fragmentierung des Stoffes als kreative Destruktion, als Infragestellen des Gewohnten ergibt in den Beispielen eine teils witzige, teils erschreckende Widerspiegelung des Jahrhunderts in Bildern, die von den verstümmelten Gesichtern der Kriegsverletzten bis zu Olaf Metzels zerstörtem Baskettballplatz reichen. Beginnend mit dem erstmals vollständig gezeigten Triadischen Ballett von Kurt Schwitters, den Filmen Max Skladanowskys bis zu Jean Tinguelys Fundstückmaschine Meta-Harmonie von 1978 wird eine »Industriealisierung« von Kunst vorgestellt, wie wir sie selbst aus den trivialen Produkten der Werbung erkennen. Alles scheint möglich und alles scheint unmöglich. Das Finale im Hamburger Bahnhof, der seine Qualität als Ausstellungsstätte nachhaltig unter Beweis stellt, ist der Ausklang eines verzweifelten Crescendos, eines stilistischen Lärms, dem die Stille folgt in den Findlingen Das Ende des Jahrhunderts von Joseph Beuys oder dem Rascheln des Papiers, das Lutz Dammbeck in seiner Installation Over Games über das Kunstattentat auf 27 Gemälde des Wiener Malers Arnulf Rainer zusammengetragen hat. Dammbeck geht in seinen gesammelten Materialien weit zurück bis zur Wiedertäuferbewegung, zum Rosenkreuzertum, zur Theosophie, zum Nationalsozialismus und zur Avantgarde. The game is over? Eine Zeit für Bilanz ist allemal gegeben. Eine Zäsur zur Bewertung von Kunst, für die der zeitliche Abstand noch zu knapp erscheint. Rückblicke können im Idealfall vorausschauend sein. Im Zeitalter der Extreme schreibt Eric Hobsbawm:» Können wir erraten, wie die Kulturgeschichte im 21. Jahrhundert die künstlerischen Leistungen der Schönen Künste in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beurteilen wird? Natürlich nicht, aber sie wird wohl kaum den (zumindest regionalen) Verfall der charakteristischen Genre übersehen können, die ihre Blütezeit im 19. Jahrhundert gehabt hatten und bis zum ersten Teil des 20. Jahrhunderts überleben konnten.« Die nächste Jahrhundertausstellung wird einen langen Anlauf benötigen.

Das XX. Jahrhundert. Ein Jahrhundert Kunst in Deutschland. Altes Museum, Neue Nationalgalerie, Hamburger Bahnhof bis 9. Januar 2000. Der Katalog zur Ausstellung erschien bei Nicolai Berlin

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