Die Geschichte lehrt, wie man sie fälscht. Stanislaw Jerzy Lecs sarkastischen Aphorismus zum Thema einer Tagung zu machen, verrät Mut. Könnte er doch geeignet sein, ihn allzu wörtlich zu nehmen, wenn es beispielsweise um die Erinnerung an die Zeit der Wende vor zehn Jahren nimmt. Aber Friedrich Schorlemmer, Studienleiter der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt, wollte die zahlreichen Teilnehmer aus Ost und West vermutlich nur ein wenig zur Diskussion provovieren. Der engagierte Zeitzeuge und in den eigenen Kreisen von einst nicht eben heißgeliebte Bürgerrechtler hatte ein Diskussionsforum zusammengebracht, das durch seine Unterschiedlichkeit für spannungsreichen Dialog sorgte; darunter den ehemaligen Kulturchef der Leipziger SED-Bezirksleitung, Dr. Kurt Meyer, die Demonstrantin aus der Nikolaikirche, Susanne Rummel, die damals mit anderen gerufen hatte: Wir bleiben hier!, den Soziologen Elmar Brähler, die Historikerin Monika Gibas, den Sozialwissenschaftler Thomas Ahbe und den Philosophen Rolf Reissig.
Für den biographischen Rahmen der Tagung sorgte die Kostümbildnerin Ingrid Kantorowicz aus Hamburg, die ihre persönliche deutsche Bilanz zog mit den Worten, weder im Osten noch im Westen zuhause zu sein. Die Künstlerin, die im Oktober 1961 in der DDR einer Verhaftung zuvorkam, indem sie den Staat mit gefälschten Papieren über den Berliner Checkpoint-Charlie verließ, schien geeignet zu sein, Gewinne und Verluste ihrer Dozententätigkeit der Kunsthochschule Weißensee zu schildern. Mit einer gewissen Wehmut erinnerte sie sich und die Zuhörer daran, dass Anfang der fünfziger Jahre viele interessante Künstler aus dem Exil in die DDR gekommen waren, um gesellschaftliche Utopien zu realisieren. »Mir geht es heute gut«, wiederholte sie mit unaussprechlichem Charme als Antwort auf die Frage, wie es ihr nach der Umsiedlung in die Bundesrepublik ergangen sei. Dennoch definierte auch sie, welchen Stellenwert die Arbeit in der untergegangenen DDR für deren Bewohner hatte. Eine Feststellung, die Elmar Brähler mit Zahlenmaterial stützte. Nach 1989 hat es 17.000 sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur Wende gegeben, die das unterschiedliche Verhältnis von West- und Ostdeutschen zu Arbeit, Familie, Politik und Gesellschaft untersucht haben. Vieles davon ist in Brählers Internetanschluß www.wiedervereinigung.de gespeichert. Das Material informiere darüber, dass die Stimmung zehn Jahre nach der sogenannten Wiedervereinigung schlecht ist. Brähler bezeichnete sie sogar als kritisch, ohne Rezepte zur Verbesserung des deutsch-deutschen Klimasturzes nennen zu können oder zu wollen. In ihrer Untersuchung über Nachwirkungen 40-jähriger Propaganda in Ost und West, meinte Monika Gibas, dass der Staat DDR nachträglich seziert werde, die westdeutsche Sozialforschung habe sich nach 1990 regelrecht auf die Ostdeutschen gestürzt. Was kein Manko sein muß, wenn es nicht, wie Friedrich Schorlemmer feststellte, nur um die »Delegitimation des bereits am Boden Liegenden« ginge. Doch obwohl in der DDR immer einer das Sagen hatte, habe es dort eine äußerst vielstimmige Gesellschaft gegeben. Was durch die Beiträge von Meyer und Rummel als spannende Oral-History illustriert wurde. Kurt Meyer erinnerte daran, wie am 9. Oktober 1989 in Leipzig befreundete Ärzte bei ihm anriefen, dass sie angewiesen seien, Blutplasma und Verbandszeug bereitzustellen. Wie in den Straßen der Stadt Fallschirmjägertruppen und Kampfgruppen aufmarschierten. Wie er gemeinsam mit Gewandhauschef Kurt Masuar, dem Theologen Peter Zimmermann, dem Kabarettisten Bernd-Lutz Lange und seinen beiden Bezirksleitungsgenossen, den Sekretären Wötzel und Pommert einen Aufruf zur Gewaltfreiheit formulierte, der vom Leipziger Stadtfunk und vom Leipziger Sender ausgestahlt wurde. Ein Beispiel großer Zivilcourage. »Wenn es schiefgegangen wäre, hätte man uns noch am selben Abend an die Wand gestellt«, meinte Meyer. Am nächsten Tag mußten die drei Bezirkssekretäre in Klausur Stellung nahmen schreiben. Die Sowjetunion und Polen hatten ihnen über die jeweiligen Generalkonsulate in Leipzig politisches Asyl angeboten. Der Tagesbefehl Honeckers für den 9. Oktober, »mit der Konterrevolution auf der Straße ein für allemal Schluß zu machen«, hatte sich in einem anderen Sinne erfüllt. »Die Angst saß neben jedem von uns auf der Kirchenbank«, erinnerte sich Susanne Rummel, die zu den Mitbegründerinnen des Neuen Forums in Leipzig zählte.
An der Akademie nahe der Wittenberger Schloßkirche, wo einst Luther seine Thesen anschlug, wurde noch einmal schmerzlich deutlich, wie wenig Kontakt es im Herbst 1989 zwischen Bürgerrechtlern und SED-Reformern der reformsozialistischen Kreise an der Berliner Humboldt-Universität, der Akademie für Gesellschaftswissenschaften der SED und der Karl-Marx-Universität Leipzig gab. Das mögliche Zusammenspiel sei von der SED verhindert worden, meinte Rolf Reissig, damals an der Gewi-Akademie und Mitinitiator des SED-SPD-Papiers von 1987. Beide Gruppen hätten in der DDR einen Systemwandel und keinen Systemwechsel angestrebt, meinte Reissig. Dennoch sei nach dem Ende der DDR der Beitritt zur BRD die einzig realistische Transformation durch Inkorporation gewesen. »Aufbau Ost als Nachbau West« sei aber nur die zweitbeste Lösung gewesen. Die Nachteile dieses Vorteils seien, dass 95 Prozent des Produktivvermögens im Osten Westlern gehörten, dass ostdeutsche Eliten in Wirtschaft und Armee zu null Prozent vertreten seien, in Justiz mit drei und in den Medien mit sechs Prozent. Ein derartiger Umbruch bedinge eine identitätsstiftende Rückschau als Rückversicherung und sei durch das Wort Ostalgie nur ungenügend beschrieben.
Vielleicht sollte Friedrich Schorlemmer den Versuch machen, mit einer weiteren Tagung Bürgerrechtler und SED-Reformer in einen nachträglichen Dialog zu bringen, ohne dass es dabei zu den »Illusionen eines rückwärtsgewandten Deteriminismus« (Henri Bergson) kommen muss, sondern vielmehr zu einer prospektiven Auseinandersetzung über Zukunftsthemen, die in der gegenwärtig verfassten Gesellschaft auf der Deponie für ideellen Sondermüll zu liegen scheinen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.