Ehrenmann beziehungsweise Ehrenfrau ist das Jugendwort des Jahres 2018. Herzlichen Glückwunsch. Nach „I bims“, „Smombie“ und „fly sein“ hat ein Wort das Rennen gemacht, das ein bisschen aus der Zeit gefallen scheint. Wer denkt schon bei Ehrenmann an das hyperdigitalisierte, vollglobalisierte Jahr 2018? Jedoch spiegelt das Gewinnerwort eine Strömung wider, die seit einigen Jahren immer wieder verstärkt in der Jugendkultur auftaucht: das Traditionelle. Obwohl die meisten „Jugendwörter“ nach wie vor verkappte Anglizismen sind („verbuggt“ – fehlerhaft, „AF“ – as fuck, etwas Besonderes, „gefreshed“ – erfrischt), kommen plötzlich altdeutsche, fast vergessene Worte in Mode. Auch das 2018 zu den Lieblingsausdrücken gekürte „Auf dein Nacken“ (Du zahlst!) kann dazu gezählt werden. Schon in den rituellen Beschimpfungen aus den letzten Jahren tauchte regelmäßig das Wort „Knecht“ auf, was auch ein Hinweis auf die Gegenbewegung zum in der Erwachsenenwelt omnipräsenten Denglisch („Meeting“, „Office“, „Facility Management“) und das aufkommende Traditionsbewusstsein der jungen Menschen ist.
Eine rituelle Beschimpfung ist übrigens ein Phänomen, bei dem das Gegenüber durch die Beschimpfung gesagt bekommt, wie gern man es hat. Zum Wesen der Jugendsprache gehört es, zu verfremden, zu zitieren und zu verbildlichen. Auch kreative Wortschöpfungen und Zitate sind schon immer Teil der Jugendsprache gewesen. In der aktuellen Rangliste zum Jugendwort des Jahres finden sich „Snackosaurus“ (verfressener Mensch), „Lauch“ (Trottel) und „glucose-haltig“ (süß) wieder. Ob tatsächlich jeder Jugendliche diese Begriffe überhaupt kennt, bleibt fraglich. Denn – und das ist ein wichtiger Aspekt – es gibt nicht die „eine“ Jugendsprache, weshalb die Ausdrücke und Worte, die in Ulm zur jugendlichen Standardsprache gehören, in Düsseldorf völlig unbekannt sein können und andersrum. Mitunter gibt es sogar innerhalb einer Stadt oder innerhalb verschiedener Milieus unterschiedliche Ausdrucksweisen unter Jugendlichen. Dabei können innerhalb der Sprechergruppen zwar Unterschiede in der Größe und Tiefe des Wortschatzes, dem grundsätzlichen Umgang mit Sprache und den Kreationsmöglichkeiten erkannt werden, die teilweise auf die soziale Herkunft und das Lebensumfeld der Jugendlichen zurückzuführen sind.
Ungestörte Kommunikation
Das grundsätzliche Benutzen der Jugendsprache ist jedoch unabhängig davon. Das entscheidende Merkmal der Jugendsprache ist nämlich, dass sie stets in einem situativen Zusammenhang existiert und die sozialen Strukturen und Gegebenheiten reflektiert, unverändert seit Jahrhunderten. Sie dient bewusst oder unbewusst stets dem Zweck, die eigene Identität auszudrücken und sich von der Erwachsenenwelt mit ihrer Standardsprache abzugrenzen. Dieses Abgrenzungsspiel, das mitunter auch mit einer Bedeutungsumkehrung einhergehen kann, ist im Umgang Jugendlicher mit der aktuellen #unten-Debatte zu sehen. Obwohl viele von ihnen mittendrin im #unten sind und wahrscheinlich unzählige Erlebnisse dazu teilen könnten, machen sie sich lieber einen lukrativen, ironischen Spaß daraus, wer am meisten #unten ist. So ging es nachmittags auf dem Weg zum Bus darum, wer den letzten Brownie aus der Großpackung vom Discounter bekommt. Um das gerecht zu entscheiden, wurde schier ein sprachlicher Überbietungswettbewerb (Hartz IV, Migrationshintergrund, kein eigenes Zimmer und sitzen geblieben) ausgetragen, bis ein Sieger auserkoren wurde. Dies ist ein typisches Verhalten im Umgang mit einer Debatte, die nicht ihre ist, aber eine gesellschaftliche Relevanz hat, die sie dann doch irgendwie tangiert.
Das Verhalten hat auch damit zu tun, dass die Zukunft für viele noch so unklar ist, dass das #unten noch gar nicht real existiert. Oder: Manche Jugendliche sind in Bezug auf ihren Status bereits abgeklärt, sie haben sich im #unten eingerichtet. Fatalismus wird dann gekonnt eingesetzt, um sich den letzten Brownie zu sichern. Was bei der etablierten Mittelschicht wohl für mitleidiges Entsetzen sorgen würde, nutzen die jungen Menschen, um spielerisch mit den Grenzen zu experimentieren. Sich zu schämen für Armut, Herkunft und sozialen Status und das auch noch auszudrücken, scheint vielmals anerzogen – für Jugendliche hat es häufig keine entscheidende Relevanz. Etwas wie Armut wird erst präsent, wenn die Erwachsenen darauf hinweisen, ihnen dies in einer Situation bewusst machen. Texte und Kolumnen, die sich mit #unten auseinandersetzen und auch von entsprechenden Erfahrungen berichten, fügen stets hinzu, dass es nicht der bessergestellte Freundeskreis war, der einen ausgeschlossen hat. Die Jugendsprache trägt einen großen Teil zu dieser postadoleszenten Erkenntnis bei. Jugendsprache wird unabhängig von sozialem Status und Herkunft gesprochen. Sie ist auch als Lebensalterssprache zu bezeichnen, weil das Alter der einzige ausschlaggebende Indikator ist, sie zu benutzen. Die Sprache als Statussymbol funktioniert übrigens in jedem Alter. Bei Erwachsenen dient sie oft dazu, sich (intellektuell) abzugrenzen und aufzuwerten (durch Fachsprache, Hochdeutsch, Jargon, Fremdwörter). Bei Jugendlichen geht es hingegen mehr um das Dazugehören. Junge Menschen haben im Gegensatz zu Erwachsenen noch kein gefestigtes Selbstbild oder eine Rolle, die sie durch ihre Ausdrucksweisen bestätigen oder verteidigen müssen. Jugendliche befinden sich noch voll im Identitätsfindungsprozess und der Konstruktion eines Selbstbildes. Die Sprache dient dabei als eine Art Erkennungsmerkmal untereinander. Mithilfe ihrer eigenen Sprache schaffen die Jugendlichen einen Raum, in dem sie ungestört kommunizieren können. Da drängt sich natürlich die Frage auf, inwieweit ein marketingindiziertes Sammeln und Auflisten dieser vermeintlich vertraulichen internen Sprache zur Belustigung der Allgemeinbevölkerung notwendig ist. Oder ob es sich doch gar um eine gesellschaftlich relevante Dokumentation der jugendlichen Sprechgewohnheiten handelt. Denn mehr als ein inflationärer Einsatz in der Werbung („läuft“, „läuft bei dir“) ist bei noch keinem Jugendwort des Jahres rumgekommen.
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