Drei Weinbeeren unterhalten sich

Sommernachtsgespräch In der heißesten Nacht des Jahres trafen sich Anchesa, Diander und doimlinque auf einige Weinschorlen, Rotkäppchensekt und was der Kühlschrank sonst so her gab ...

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

...Alle drei haben – so`n Zufall aber auch – kurz vorher Tolstois "Anna Karenina" gelesen und den dazugehörigen, kürzlich erschienenen Film gesehen. Wir haben ihr diesbezügliches Gespräch belauscht.

http://www.toonpool.com/user/8509/files/tolstoi_1267255.jpg

Vielversprechender Nachwuchsautor: Tolstoi.

doimlinque: Und? Wie hat Euch das Buch gefallen?

Anchesa: Ich war ja erst skeptisch. Tolstoi hat mir doch irgendwie Respekt eingeflößt.

Ich kannte Tolstoi ja vorher gar nicht, bei uns in der Schule gab es doch eher andere Literatur. Aber ich bin im Nachhinein sehr positiv überrascht.

Diander: Warum positiv überrascht? War da irgendwas negativ vorbelegt? Ich hatte mir das Buch eigentlich schon vor Jahren vorgenommen, und auch gekauft. Allerdings daheim dann erst gemerkt, dass es nur Teil 2 war. Und dann wieder in die Ecke gelegt.

Anchesa: Das kenne ich von anderen Büchern. Ich habe hier noch etwa 30 Bücher, die darauf warten, gelesen zu werden.

doimlinque: Ja, wer kennt das nicht...? Immerhin hast Du es ja dann doch noch mal vorgekramt. Ich hatte die Anna so mit 16 oder 17 schon mal gelesen, habe aber jetzt gemerkt, dass ich mindestens die Hälfte entweder gar nicht oder falsch im Kopf hatte.

Anchesa: Hast Du es in der Schule gelesen oder auf eigene Initiative ?

doimlinque: Nee, war schon auf eigene Faust. War so eine verrückte Lebensphase, offensichtlich. Jedenfalls habe ich das Viech jetzt auch ganz gerne noch mal gelesen. Allerdings haben mir dieses Mal die Lewin-Passagen viel besser gefallen, die hatte ich damals eher überflogen.

Diander: Ja, Lewin. Der ist mein eigentlicher stiller Held in der Geschichte. Ich frage mich, warum das Buch eigentlich Anna Karenina heißt, im Grunde laufen da ja mehrere gleichberechtigte Stränge, Ännchen ist nur einer davon. Lewin finde ich den spannendsten Part dabei.

Aber nochmal zur Idee des Lesens, ich hatte Ende letzten Jahres gehört, dass eine neue Verfilmung dazu rauskommt, und darum habe ich endlich das Buch angepackt.

doimlinque: Wie schön, Hollywood bringt die Leute zum Lesen!

Diander: Na hömma, lesen geht immer, die Frage ist ja nur, was... Nein, ich mag es einfach nicht, Verfilmungen anzusehen, wenn ich das Buch nicht kenne. Erst das Buch, dann der Film, andersherum geht gar nicht.

doimlinque: Hmmm, gerade die Lewin-Stellen sind natürlich schwer im Film rüberzubringen. Eigentlich ist da hauptsächlich der Anna-Plot interessant. Ich vermute, das könnte auch bei der Namensgebung eine Rolle spielen: Dass Tolstoi die tragische (haach) Anna-Fabel als Aufhänger nimmt, um an den anderen Stellen des Buches über Gott und die Welt (oder wenigstens Russland) rumzuphilosophieren.

Und der Film? Besser? Schlechter?

Anchesa: Vielleicht heißt das Buch "Anna Karenina", weil sie eine der tragischen Figuren des Buches ist ? Lewin war auch meine Lieblingsfigur. Und Anna ehrlich gesagt die, mit der ich am meisten Probleme hatte.

Der Anna-Plot ist aber nur interessant, wenn eben der Lewinsche Konflikt entfällt.

Den Film find ich um Längen schlechter!

Diander: Ja, natürlich, ich stimme Euch beiden zu. Anna ist der Aufhänger, mit dem alle/s geködert werden.

doimlinque: Im Grunde finde ich Lewin am Ende übrigens mindestens so nervig wie Anna, und die finde ich schon ziemlich nervig! Aber gut. Lewin ist halt mehr so der stille Denker-Typ, bei Anna leidet die ganze Welt bei ihrem Untergang mit.

Anchesa: Der Aufhänger aber nur im Film. Im Buch ist es doch vielschichtiger...

Lewin hat mich nur zum Schluss genervt, mit den ewigen Monologen...

Mit Anna mitgelitten ? Mitnichten... Ich fand sie echt nervtötend.

doimlinque: Ja eben! Am Schluss (also so ungefähr ab Seite 90.000.000) wird es dann ein wenig arg viel, mit Lewins Gedankengängen über den Fortschritt und die russische Seele und die Ehe und die Eifersucht und hier und da. Bei Anna hingegen geht es von Anfang an (wo sie noch nett und lieb und alles ist) eigentlich nur bergab. Zum Schluss ist es fast (!) eine Erlösung, dass die Geschichte das Ende nimmt, das sie nimmt. Finde ich...

Diander: Einspruch zu Lewin. Dass er am Ende sein Glück findet, finde ich herzensgutes, romantisches Wesen eine Erleichterung im Vergleich zu Anna. Und er hat sich das ja schließlich redlich verdient, nach den langen Gewissenskämpfen und Irrungen und Wirrungen. Anna, ja die nervt teilweise sehr. Obwohl ihre Verzweiflung ja berechtigt ist, ist sie phasenweise ein manipulatives Biest.

Anchesa: Anna nett und lieb ? Auf den ersten 10 Seiten vielleicht, danach kam sie mir vor wie ein trotziger Teenager, und zwar immer mehr im Laufe des Buches. Und ehrlich gesagt, die Figur der Anna war echt fehlbesetzt...

Ich finde, Lewin hat das Glück eher verdient aufgrund seines Wesens, weniger wegen seiner Gewissenskämpfe.

Anna fand ich eigentlich nicht manipulativ, sondern eher so verdammt unsicher in ihrer Art. Sie hat alles und jeden hinterfragt.

doimlinque: First things first: Ja, Lewin sei sein Glück gegönnt. Vielleicht ist es mir persönlich ein wenig zu, ähm, christlich, aber gut. Und die Anna... Ich habe die ganze Zeit versucht, mir einzureden, dass es natürlich die Gesellschaft ist, die für Frauen wie Anna keinen Platz lässt und sie deswegen fast gezwungen ist, so krankhaft eifersüchtig zu werden und sich an Wronski zu klammern etc. Mag sein, dass das ein Stück weit auch so ist, aber am Ende ist es auch sie persönlich, die eine wenig einnehmende Figur abgibt und ich habe Wronski mehr und mehr bedauert...

Anchesa: Ich finde, christlich wird Lewin erst am Schluß, weil er zuviel grübelt und hinterfragt. Wäre er irgendwann auf halbem Wege zufrieden gewesen, hätte es (mir) auch gereicht.

Anna war halt manisch-depressiv. Eigentlich kam es also nicht durch die Gesellschaft, sonst hätten ja fast alle Frauen (die ja fast nur ohne Liebe verheiratet wurden) durchdrehen müssen.

Sie konnte halt ihre depressiven Schübe (die ich sehr gut beschrieben fand) nicht mehr in den Griff bekommen.

doimlinque: Das stimmt. Anna ist zwar nervig aber Tolstoi schreibt das sehr gut, sehr überzeugend, sehr ätzend.

Diander: Ja, so`ne Story sich damals aus den Fingern zu saugen, scheint mir auch unvorstellbar. Sehr wirklichkeitsnah. Aber wisst Ihr was? Wir lästern hier die ganze Zeit über Anna und Lewin, dabei sind ja die anderen auch nicht von schlechten Eltern. Karenin zum Beispiel, der toppt ja wohl Lewin in Sachen Christlichkeit um einiges.

doimlinque: Ja, naja, so eine fake-Christlichkeit, gell? Ich meine, diese Uschi, auf deren Namen ich gerade nicht komme (Lydia Iwanowna) redet ihm vieles ein. Sein eigener Glaube, tja, wie weit es damit her ist, da bin ich mir nicht sicher. Es gibt bei Karenin eine Phase in der Mitte des Buches, da ist er mir ganz sympathisch. Er will Anna verzeihen, sorgt sich um den Sohn (im Gegensatz zu Anna, jedenfalls meistens) und so weiter. Und dann kommt die Lydi und ändert die Dinge und sorgt so indirekt für das unhappy end.

Anchesa: Karenin ist für mich eine der tragischen Figuren, weil er ja eigentlich nur nach der russischen Sitte handelt, versucht, seine Familie und den äußeren Schein aufrecht zu erhalten.

Und eigentlich versucht auch Gräfin Lydia, ihre Chance auf ein wenig Ansehen in der russischen Gesellschaft zu nutzen. Wenn sie die zweite Karenina werden würde, was ja ihr Ziel zu sein scheint, wäre das natürlich für sie der Lottogewinn.

Diander: Wir sind uns erschreckend einig, den Karenin fand ich auch zwischendrin ziemlich sympathisch. Liebe in all ihren Facetten, das ist ein wichtiger Punkt. Liebe wird es bei der fiesen Lydia sicher nicht sein, Eifersucht auf die schöne junge Nebenbuhlerin schon eher.

Und doimlinque, gib es zu, der Karenin muss ja auch ein Stück ein Netter sein, sonst hätte den Part ja Jude Law nicht übernommen.

Anchesa: Di, denkst Du - nebenbei gefragt - Jude Law übernimmt nur nette Rollen ? Glaub ich nicht...

Diander: Nein, "netter" ist der falsche Ausdruck, lösch das mal. "Spannender" träfe es besser. Er wird in Annas Beschreibung als Langweiler dargestellt.

Anchesa: Ich glaube nicht an Eifersucht bei Gräfin Lydia. Eifersucht setzt auch immer Gefühle voraus und die hat sie meiner Meinung nach nicht. Ich denke eher, es war von ihrer Seite her Berechnung und Manipulation durch diesen Geisterbeschwörer.

doimlinque: Ach, die Lydia ist eine unerfreuliche Erscheinung, ob es nun Eifersucht oder fanatischer Glaube oder was auch immer ist. Andererseits zwingt auch niemand den Karenin, der Alten so viel Platz in seinem Leben einzuräumen.

Ich finde das übrigens ein wenig eine Schwäche in der Romankonstruktion, dass nämlich die Beziehung von Anna und K. von Anfang an eigentlich von der Art ist, dass man eigentlich auf den Ausbruch warten muss. So ist der Fall von Anna am Ende gar nicht so tief, der Macker hat ihr halt nichts bieten können. Sag ich jetzt mal so.

Um das noch mal auszuführen: Wir wissen eigentlich nur ganz wenig von Annas Leben als Ehefrau. Es wird gesagt, dass sie eine liebende Mutter ist und dass sie eine Grande Dame der Petersburger High Society darstellt und so weiter. Und dann verliebt sie sich halt in diesen dahergelaufenen Wronski. Ja und? Ich meine, der Beziehung zwischen ihr und Karenin konnte man da einfach nicht nachtrauern.

Anchesa: Am nervigsten bei Anna fand ich ja, das sie mit ihrer Umwelt nicht wirklich gesprochen hat, sondern sich in ihre eigene Gedankenwelt zurückgezogen hat und sich quasi "selbst fertig gemacht hat".

Diander: Jetzt sind wir aber doch an dem Punkt, die Frage zu stellen, ob und wieviele liebende Ehefrauen und -männer es damals gegeben hat und ob es nicht der gesellschaftliche Zwang war, der so nichtssagende Beziehungen produziert hat - zwangsläufig. Vielleicht gab es einfach nichts zu berichten über eine liebende Beziehung. Und ich mein - hey- selbst wenn, bei den vielen Empfängen, Soirées und pipapo bleibt ja gar keine Zeit, sich mit so Kleinigkeiten wie gepflegte Zweisamkeit zu beschäftigen.

doimlinque: Wieviele liebende Ehegatten es damals gab? 12 1/2, ich habe nachgezählt! Im Ernst: Die Lewingeschichte ist ja auch über weite Strecken eine Annäherung an eine funktionierende Ehe. Im Laufe der drölfhundert Seiten ihrer Beziehung nähern sich Kitty und Lewin stetig dem Ideal. Und stehen damit im Gegensatz zu Annas verqueren Bewegungen auf diesem Terrain.

Anchesa: Ich denke, mit dieser verqueren Beziehung waren die Karenins damals eher der Standard als die Ausnahme.

doimlinque: Vermutlich.

Diander: Ja, das dürfte so gewesen sein, kein Wunder bei den Verheiratungspraktiken. Da waren die Eltern nicht ganz außen vor, kann ja nicht gut gehen. Apropos, ist Euch aufgefallen, dass die große Susanne Lothar Kittys Mutter gespielt hat?

doimlinque: Ist das eine Schwippschwägerin von Dir, die Lothar? Mir war das nicht aufgefallen, aber gut. (Wer is‘n das?)

Anchesa: Ich hab‘s bemerkt, wobei ich zugeben muss, ich mochte sie noch nie. doimlinque, die S. Lothar ist eine ostdeutsche Schauspielerin gewesen, die Ex von Ulrich Mühe.

doimlinque: Ich mochte die auch noch nie!

Wegen all dem, was wir da über die fiesen "Verheiratungspraktiken" gesagt haben, habe ich auch immer versucht, Verständnis für Anna und ihre Lage aufzubringen. Ist mir nur so semi geglückt. Ich glaube aber schon, dass das ein Thema war, das Tolstoi umgetrieben hat.

Anchesa: Verständnis für Anna hatte ich anfangs, das hat sie aber verspielt durch ihre Weigerung (die ich nicht nachvollziehen kann), Karenin um die Scheidung zu bitten. Wronskis Wunsch war es doch meiner Meinung nach, sich die Familie aufzubauen, die er vorher eben (auch bei seiner Mutter) nicht hatte. Er wollte sein Kind legimitieren, wollte Anna seinen Namen geben!

doimlinque: Diese Scheidungssache habe ich auch nicht verstanden, Ich habe immer vermutet, dass da irgendein gesellschaftlicher Code, den ich heute nicht mehr nachvollziehen kann, zum Tragen kommt. Weiß nicht.

Überleitung: Wronski. Guter Punkt. Der Junge ist mir mehr und mehr ans Herz gewachsen. Erst war das so ein Aufreißertyp, aber immerhin ist er bis zum Ende bei Anna geblieben und war auch der deutlich weniger anstrengende von den beiden.

Diander: Ja, das ging mir beim Lesen auch schon so. Eine Wandlung, wie sie im Buche steht (haha!), vom schnittigen Offizier zum besorgten Partner. Und schon wieder komme ich auf den Film zurück. Wronski fand ich im Film anfangs gaaaanz fürchterlich, mit blasiertem Getue. Ein blasser Schnösel, der aber dann im weiteren Verlauf gewonnen hat. Hat er richtig gut gemacht, nach meinem Geschmack.

Anchesa: Gewonnen aber nur im Auge des Betrachters, nicht in der Story selber. Er ist ja wohl der eigentliche Verlierer des Buches. Wenn er die selbstzerstörerische Anna nicht kennen- und lieben gelernt hätte, er hätte vielleicht groß "Karriere" gemacht.

doimlinque: Hat er halt mal was von der Welt gesehen... Ich weiß nicht, ob man vom "eigentlichen" Verlierer sprechen kann. Anna stirbt immerhin, Karenin ist mit dieser Lydia geplagt, Dolly ist unglücklich über die Untreue ihres Mannes, der selbst wohl auch nicht so ganz glücklich ist. Nur Lewin und Kitty stehen am Ende des Buches besser da, würde ich mal behaupten.

Anchesa: Aber Karenin geht auf in seiner Position, sowohl gesellschaftlich als auch durch die Arbeit. Dolly hat ihre Kinder, die sie glücklich machen. Der Mann liebt Dolly ja auch (sonst wäre er am Anfang doch wohl nicht so verzweifelt gewesen durch Dollys Weigerung), nur dass er halt Zerstreuung sucht... Nur Wronski hat irgendwie nichts mehr, weil selbst seine Tochter bei seinem Rivalen aufwächst.

Diander: Nein, sorry, Widerspruch zu Karenin. Karenin geht nicht auf in seiner Arbeit, er verliert alles, in der Arbeit schwimmen ihm die Felle davon, weil er mit seinem Dekret gescheitert ist, Anna ist weg, sein gesellschaftlicher Ruf wird auch gelitten haben, die Lydia an der Backe, da geht nix auf. Und auch die anderen Akteure leiden (bis auf Kitty und Lewin).

Ganz fürchterlich fand ich übrigens auch den Niedergang der Familie Oblonski, nach einer geglückten Versöhnung anfangs später der finanzielle und emotionale Untergang

doimlinque: Finde ich übrigens ziemlich kunstvoll ausgedacht von Tolstoi, dass Anna eingeführt wird als große Ehewiederzusammenkitterin und sich bei derselben Gelegenheit in einen anderen Mann verliebt. So kann's gehen.

Und dann der Zug!!! Vielleicht habe ich zuviel Hitchcock geschaut, aber ich habe da auch immer eine erotische Metapher gesehen: Annas Zug fährt in den Moskauer Bahnhof ein und weil Eros und Thanatos auf einer Wellenlänge liegen besiegelt sie damit auch quasi ihr eigenes Schicksal. Sie wird sterben, das ist schon jetzt ganz klar. Zu gewagt?

Anchesa: Ziemlich gewagt!

doimlinque: Aber poetisch! Und künstlerisch wertvoll...

Wie dem auch sei, jedenfalls scheint mir dieser Zug mehr zu sein, als nur ein Zug. Auch in einem anderen Kontext: Lewin spricht über den schlechten europäischen Einfluss auf die russische Kultur und führt dabei immer diese Züge als Beispiel an. Es ist also etwas unheilvolles, was sich da auf den Gleisen nähert, egal, wie man das jetzt im Einzelnen interpretiert. So. Das dazu…

Anchesa: Ich habe den Zug eigentlich eher im Zusammenhang mit dem alten Mann mit dem Hammer gesehen, den Anna nicht nur mehrfach auf den Bahnsteigen, sondern auch in ihrem Alptraum sah. Insofern war der Zug für mich eigentlich eher Mittel zum Zweck. Tötungshilfsmittel so wie die Pistole für Wronski das war.

doimlinque: Ha! Ganz kurz: Wusstet Ihr, dass sich Joseph Conrad (der Schriftsteller) auch mal in einem Selbstmordversuch in die Brust geschossen und es überlebt hat? Und das, obwohl er es nach Wronskis Patzer hätte wissen können. Lest Tolstoi, habe ich schon immer gesagt.

Anchesa: Mit anderen Worten, Tolstoi zu lesen, kann Leben retten!!!

doimlinque: Nee. Tolstoi lesen, kann töten helfen.

Diander: Nee, die Geschichte kannte ich nicht.

Der Zug, der bietet auch noch eine andere Variante. Er ist das Symbol das sich durch das Buch zieht. Anna lernt Wronski in dem Zug kennen, das besiegelt ihr Schicksal und durch den Zug kommt sie ums Leben.

doimlinque: Ja eben. Und der Zug fährt in den Bahnhof. Das ist Sex, aber ihr wollt es wieder nicht hören. Jedenfalls könnte man sich fragen, inwiefern Tolstoi das negativ konnotieren will. Aber gut, lassen wir das. Später hat Tolstoi auch noch "Die Kreutzer-Sonate" geschrieben. Da ist Sex so ungefähr das Schlimmste, was in einer Ehe passieren kann.

Diander: Was ist eigentlich mit dem Sohn von Anna und Karenin, wie kann es sein, dass er einen vergleichsweise geringen Stellenwert einnimmt? Glaubt Ihr Anna, dass sie wirklich aus Angst, ihren Sohn endgültig zu verlieren, die Scheidung nicht unbedingt verlangt?

Das finde ich persönlich einen schwierigen Teil in der Geschichte, das Kind als Hauptperson hierfür darzustellen, wobei sie hinterher, bis auf die eine Geburtstagsszene, kaum noch Interesse für ihre Kinder hat. Auch nicht für ihre Tochter mit Wronski, die sie eher ignoriert, obwohl die Tochter bei ihr lebt. Liebe, das Thema, das sich in Facetten durchzieht, finde ich da wenig.

Anchesa: Ich glaube nicht, das es Anna in erster Linie um den Sohn geht. Eher um ihre Stellung in der Gesellschaft. Sie lehnt ihre Tochter ab, weil sie ihr "nichts bringt" aber der Sohn ist zugleich auch immer noch die Tür zurück. An dem hält sie fest bis zum Schluss. Selbst als dadurch Wronskis Tochter sogar als Karenina aufwächst.

doimlinque: Ja. Finde ich auch schwierig. Und es geht auch wieder zurück, auf was ich oben schon meinte: So tief fällt Anna am Ende gar nicht, weil sie so rein und toll und alles auch vorher nicht unbedingt gewesen sein kann. Vielleicht (Vorsicht: Spekulation) waren die Kinder auch für Tolstoi kein übermäßig spannendes Thema. Sie kommen jedenfalls seeeehr wenig vor am Ende.

Anchesa: Ich denke schon, dass Tolstoi die Kinder bewußt so eingesetzt hat. Gerade der krasse Unterschied, den Anna macht zwischen Tochter und Sohn, ist doch wichtig.

Diander: In einer Szene grübelt übrigens auch Dolly über die Mühsal, die die Kinder bereiten, fast wortwörtlich jammert sie über die ewigen Krankheiten, die "häßlichen Neigungen". Dass eine andere Mutter schulterzuckend über den Tod ihres Kindes schulterzuckend berichtet, kann sie zwar nicht so ganz hundertprozentig nachvollziehen, aber die Einstellung von Tolstoi zu Kindern könnte daraus ersichtlich sein.

doimlinque: Bleibt natürlich Spekulatius, was Tolstoi sich gedacht hat. Anchesa hat schon recht, der Unterschied in Annas Beziehung zu Sohn und Tochter ist ziemlich auffällig. Trotzdem ist es mehr ein "Erwachsenen-Buch“, in dem Sinne, dass die Kinder nie tragende Rollen in der Handlung übernehmen. Spricht auch nicht für die Herzlichkeit der Familien.

Anchesa: Passt aber zu der Gesellschaft, damals wie heute. Auch da spielen Kinder nicht die Hauptrolle, sondern laufen meist unter "ferner liefen..."

doimlinque: Du meinst, Anna Karenina ist der russische Kommentar zur deutschen Kinderflaute? Hammerhart, dieser Tolstoi!

Diander: Eher der Kommentar zur Bundesfamilienministerin...

doimlinque: Stimmt, die sieht auch so aus wie Keira Knightley.

Diander: Ich weiß gar nicht, wem Du da jetzt mehr Unrecht tust...

doimlinque: Jude Law!

Anchesa: Tolstoi!

Spannend finde ich auch, dass Lewin in Kitty ja anfangs nur die kleine hübsche Frau sieht, die sie äußerlich ist. Aber durch den Tod seines Bruders, durch ihre Stärke und Hilfe. merkt Lewin erst, was wirklich in Kitty steckt.

Diander: Ja, das ist der Fehler vieler Männer, Frauen zu unterschätzen (hehe!).

doimlinque: Kein Wein mehr für Diander! So ein Quatsch!

Anchesa: doimlinque, verrat hier nicht alles!

doimlinque: Die Beziehung von Lewin und Kitty entwickelt sich fast diametral entgegengesetzt zu der von Wronski und Anna, oder? Von so lala bis doch ziemlich gut. Während Anna und Wronski im siebten Himmel starten und grandios scheitern.

Anchesa: Ich denke nicht, dass das zu vergleichen ist. Lewin und Kitty sind auf einer Stufe. Sind einander ebenbürtig. Wohingegen Wronski bei Anna immer der Unterlegene ist. Auf ihr Wohlwollen angewiesen ist und sich ihren Launen ausgesetzt sieht. Das ist keine Beziehung im Sinne von Gleichen sondern scheint für Anna eher ein "Spiel".

Diander: Dass beide Lovestories diametral verlaufen ist ja richtig. Ich vermute, dass das Motiv aber ein anderes ist, nämlich die Unterschiede zwischen der "reinen, asexuellen Liebe" (ich glaub, Tolstoi nennt es tatsächlich irgendwo "rein") und der sexuellen Variante. Vielleicht ist das auch der Hieb mit der Moralkeule. Schon wieder Spekulatius...

Hier stieg eine Weinbeere aus. Welche, und ob vor Hitze, Müdigkeit, Weinschorle oder Piccolöchen, muss an dieser Stelle offen bleiben.

Anchesa, Diander & doimlinque

Fortsetzung folgt...vielleicht

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Diander

Jeder macht, was er will, keiner macht, was er soll, aber alle machen mit!

Diander

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden