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Jack the Ripper Es lebe der Print

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Vor etlichen Jahren war vor dem Bezug der neuen Wohnung viel herzurichten. Das Haus, nach dem 30 jährigen Krieg im katholischen Teil Kemptens, der „Stiftstadt“, dem Handwerkerviertel, erbaut, hatte Flair. Ein alter Mann hatte vorher darin gewohnt, Zeit seines Lebens, 4 Kinder darin groß gezogen, viel verbaut und verschlimmbessert, wie das zwischen 1930 und 1996 eben jeweils so Mode war. Nichts aber, was nicht mit Muskelkraft wieder herzurichten wäre, so der Anschein. Der Plan, als wir anfingen, lautete eigentlich erstmal, die Tapeten abzuziehen und anschließend neu zu verputzen. Und zu erhalten und auszugraben, was erhaltenswert schien. Das Linoleum aus den Fuchzigern gehörte nicht dazu, ebenso wenig die Filzteppichfliesen oder die Kassettendecke im Wohnzimmer.

Also runter mit der Decke. Schon beim Entfernen wurde klar, warum sie dort hing, wo sie hing. Zutage kam eine windschiefe Decke, bei der einem auf der Leiter schon beim Hinsehen schwindelig wurde. Und in den Zwischenräumen als Dämmung allerlei Schrott, aber auch Zeitungen.

In der ersten Pause wurde gleich gelesen, alte Zeitungen von 1957 bis 1961.

Ein Anfangszimmermädchen wurde per Stellenanzeige gesucht.

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Anfangszimmermädchen? Was sie zu tun hat, kann ich mir vorstellen, aber den Begriff bis zu diesem Zeitpunkt noch nie gehört.

Und eine Haushaltshilfe von älterem Herrn gesucht. Spätere Heirat nicht ausgeschlossen. Sehr praktisch veranlagt, der Mann.

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Neben anderem „Wissenwertem“ wie dem 25 jährigen Jubiläum von Pfarrer Schleibinger auch ein Bericht „Mensch, is det ne Kälte hier“ über Berliner Kinder, vom Roten Kreuz und dem Bund der Heimkehrer ins Allgäu geschickt, sie stellen fest, dass es im Allgäu kälter als in Berlin ist. Stimmt generell vermutlich auch, dass der heurige Winter aus der Reihe tanzt, konnte damals ja noch keiner wissen.

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Nachdem die Decke runter war, waren die Tapeten an der Reihe. Dicht unter den Tapeten kamen Strom- und sonstige Kabel zum Vorschein, gemeingefährlich verlegt und von Nägeln durchbohrt. Also raus damit und die ganze Wohnung neu verkabeln. Also Putz runter.

Und wie das mit alten Häusern so ist, je tiefer man gräbt, desto größer die Überraschungen. Tief hinter dem Putz auf einmal ein Holzbalken. Verwundert wurde eine Krisen- und Leberkässemmelpause eingelegt. Nach kurzer Beratschlagung der Entschluss, vorsichtig weitere Balken zu suchen. Mit Erfolg, das ganze Haus schien in Fachwerkbauweise gebaut zu sein. Hinter den Putzschichten tauchten hinter Binsen, Stroh und Zeitungen versteckt große Teile des Fachwerks auf.

Wieder Zeitungen, diesmal aber nur noch in Fetzen zu retten. Kein Datum erkennbar. Lesepause! Der Feuilletonteil ist noch der größte erhaltene Schnipsel.

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Als schwierige Aufgabe für „sich dem Bühnenfach widmenden Zöglinge“ wird die Darstellung der Oper „Figaros Hochzeit“ eingeschätzt. Haben sie aber anscheinend gut gemeistert:

„Bedenkt man die gesanglichen und darstellerischen Schwierigkeiten, die beide noch von den Anforderungen, welche dieses unvergleichliche musikalische Lust- und Intrigenspiel in Bezug auf ein schlagfertiges Ensemble stellt, übertroffen werden, so wird man begreifen können, welche Mühe und Ausdauer dazu gehören mag, diese Oper Schülern, die noch nie die Bretter eines Theaters betreten haben, einzustudiren, und zwar so, daß sie sich wie die gestrige Vorführung, in allen Ehren sehen lassen kann.“

Das ist ja mal ein Satz, kurz Luft holen, weiter geht’s im Text: „… Besonders günstigen Eindruck erhielten wir von der schönen, ausgiebigen Baßstimme des Herrn Christoph Heim aus Offenbach (Bartholo). Den Pagen Cherubin verkörperte „als Gast“ eine frühere Schülerin der Anstalt, die großherzogl. Hofopernsängerin Frl. Emma Jungk aus Darmstadt mit Temperament und Anmuth…“

Anschließend ein Bericht über die Schließung des Deutschen Hoftheaters in St. Petersburg.

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„Das deutsche Hoftheater wurde mit der Aufführung von „Emilia Galotti“ geschlossen und aufgelöst, nachdem es 84 Jahre bestanden hatte. Der Hauptgrund der Auflösung liegt in der allem Deutschen überhaupt unfreundlichen Zeitströmung. Dann aber traten noch manch andere Gründe hinzu, so z.B. die ungemein kostspielige Verwaltung kaiserlicher Bühnen, die für das verflossene Jahr mit einem Fehlbetrag von 1.800.00 Rubel abschloss! Das deutsche Theater kostete den Hof freilich am wenigsten, etwa 50.000 Rubel. Da es aber diejenige Bühne war, deren man am leichtesten entrathen zu können meinte und da zudem der Hof sich für dasselbe gar nicht interessierte, so musste es herhalten um den Fehlbetrag zu vermindern. Der Kaiser und die Kaiserin, die, so lange sie im Winter in St. Petersburg zu weilen pflegen, jeden Samstag das französische Theater besuchen, sind, seit der Kaiser Alexander III. auf dem Thron ist, in den 9 Jahren nur zweimal im deutschen Hoftheater gewesen: einmal haben sie sich die „Fledermaus“ und ein anderes Mal den…..“Ende des lesbaren Textes

Alexander III. bestieg 1881 den Thron, 9 Jahre später, aaahh, eine Jahreszahl. Die Zeitung scheint von ca. 1890 zu stammen.

Ein wenig Klatsch und Tratsch aus Düsseldorf…

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„Die in der Stadt cirkulierenden Gerüchte über die Verabschiedung des Prinzen Wilhelm zu Sachsen-Weimar leiden an starker Übertreibung. Thatsache ist, daß der Prinz auf Wunsch des Großherzogs von Sachsen-Weimar sein Abschiedsgesuch eingereicht hat. Unrichtig sind jedoch die Angaben über das Vorhandensein einer Schuldenmasse, insbesondere an Spielschulden und deren Abtragung in Jahresraten. Vielmehr wird uns von befugter Seite mitgetheilt, dass sämmtliche eingehende Rechnungen ihre sofortige Erledigung finden. Auch die Stellung des Prinzen unter Curatel sei nicht der Thatsache entsprechend.

Der Großherzog muss damals Karl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach gewesen sein, dieser Herr.

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Der Verbleib des mutmaßlich missratenen Verwandten ist nicht klar, möglicherweise handelte es sich um den Enkel, diesen Zeitgenossen. Zumindest lässt es der Stammbaum vermuten.

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Und weiter in der Gerüchteküche:

Am „25. Oct.“ wird von einem scheußlichen Vorfall aus Montreal berichtet (leider nicht vollständig erhalten):

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In dem kleinen Städtchen Li…, Ontario, wurde an einem Frauenzimmer, Namens ??? Keith, ein Verbrechen verübt, welches in allen Einzelheiten (an) Jack den Aufschlitzer erinnert.. Der That verdächtig (ist) ein Matrose Namens Chatelle. Man behauptet sogar, daß Chatelle in London war, als die Frauenmorde in Whitechapel beg…

Jack der Aufschlitzer? Jack the Ripper. Oh, das Rätsel ist endlich gelöst, Jack der Aufschlitzer war jener Matrose? Mr. Chatelle wurde 1894 hingerichtet, das erwähnte Frauenzimmer scheint ein 13 jähriges Mädchen namens Jessie Keith gewesen zu sein, deren Geist gerüchteweise immer noch in Kanada umher zu spuken scheint.

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Und wer weiß, vielleicht auch hier im Hause, manchmal knackt es nachts so unheimlich. Kann aber auch am Fachwerk liegen.

Diander

Für doimlinque, der die Geschichten in kurz schon mal gehört hat und für Anchesa, zur Einstimmung auf und Erinnerung an Ripper Street

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Geschrieben von

Diander

Jeder macht, was er will, keiner macht, was er soll, aber alle machen mit!

Diander

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