Ghettowelt Deutschland?

Fremdenfeindlichkeit Über 20 Jahre nach den Ausschreitungen von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen solidarisieren sich wieder Rechtsradikale mit Normalbürgern. Hat sich nichts verändert?

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Als nach dem Mauerfall eine Welle rechter Gewalt den Osten Deutschlands durchzog und eine ausländerfeindliche Grundeinstellung auch vieler Normalbürger offenbar wurde, war das für viele ein Schock. Nicht nur Einzeltaten, verübt von rechten Jugendbanden, sondern auch rassistische Exzesse wie in Hoyerswerda, Magdeburg oder Rostock verstörten nachhaltig. Sie wären Zeichen genug gewesen, politische Konsequenzen zu ziehen. Doch weder die etwa 152 Todesopfer rechter Gewalt, die seit der Wiedervereinigung zu beklagen sind, noch die Anschlagserie der NSU-Terrorgruppe haben dazu geführt, dass sich an der Situation etwas ändert. Warum wird man der rechten Gewalt nicht Herr?

Sie ist indes keine Domäne der östlichen Bundesländer. Auch der Westen kennt die Problematik, doch unterscheidet diese sich qualitativ und quantitativ. Eine Untersuchung zeigt jedoch immer noch einen Überhang rechter Gewalt in den neuen Bundesländern. Die Dresdner Hannah Arendt-Stiftung ermittelte, dass in Sachsen die Zahl rechter Gewalttäter mehr als doppelt so hoch liege wie im bundesdeutschen Durchschnitt. Es weckt ungute Erinnerungen, wenn sich heute wieder Bürger gegen Flüchtlingsheime organisieren, wie unlängst in den Ostberliner Stadtteilen Marzahn, Hellersdorf und Köpenick. Die Organisatoren nutzen soziale Netzwerke, berufen sich auf die Kultur der Bürgerbewegungen. „Wir sind das Volk!“ - selbst vor der ehemaligen Parole der DDR-Bürgerrechtsbewegung schreckt man nicht zurück. Hinter den Protesten stecken meist rechts-populistische Gruppierungen mit Verbindungen zu rechtsextremen Parteien. Getragen werden sie durch einen bürgerlichen Rassismus, welcher der Bezeichnung „Wutbürger“ einen bitteren Beigeschmack verleiht.

Im September 1991 drangen unschöne Szenen über den Fernsehschirm. Die ausländerfeindlichen Ausschreitungen von Hoyerswerda sollten das Bild von Ostdeutschland nachhaltig verändern. Im verebbenden Nachhall der bürgerbewegten Montagsdemos marschierte er plötzlich wieder: Der hässliche Deutsche. Hoyerswerda war der Auftakt für eine Welle von Gewaltakten, die in den folgenden Jahren nicht nur die neuen Bundesländer betreffen sollte. In den Städten hatte die rechtsextreme Gewalt zwischenzeitlich abgenommen. Inzwischen ist die Zahl wieder angestiegen. Die jüngsten Proteste, bei denen Anwohner sich mit Rechtsextremen gegen Flüchtlingsheime solidarisieren, zeigen scheinbar Potenzial zur Geschichtswiederholung. Viele Fragen sich, ob bald Flüchtlingsheime brennen werden? Es ist wichtig, zwischen Einzeltaten und Pogromstimmung zu unterscheiden. Denn zwischen dem Selbstbild einer selbst ermächtigten Minderheit einerseits und dem Leitmotiv des Willensausdrucks einer vermeintlichen Mehrheit liegt ein wichtiger Unterschied. Auch wenn das eine das andere bedingt; nur im zweiten Fall ist mit der inhärenten Normalisierung von rechtem Gedankengut im Zeitalter des Populismus Politik zu machen.

Die Frage, warum es zum Schulterschluss zwischen Rechtsextremisten und Bürgern kommt, kann Aufschluss geben. Weil sich diesem niemand entgegen stellt? Der Hinweis auf mangelnde Zivilcourage sei dabei hintenan gestellt. Zivilcourage kann helfen, einen rassistischen Exzess zu verhindern, wie man an vielen Gegendemonstrationen bereist sehen konnte. Damit ist es aber nicht getan. Denn den Ursachen für fremdenfeindliche Stimmung kommt man so kaum bei. Entscheidend ist, unter welchen Voraussetzungen es zu ausländerfeindlichen Gruppenexzessen kommen kann. Inwiefern die Politik seinerzeit in Rostock-Lichtenhagen dazu beitrug, ein ausländerfeindliches Klima zu schüren, könnte erwogen werden. Die damaligen Kampagnen der CDU zur Änderung des Asylrechts, in den die SPD endlich, am ersten Tage nach den rassistischen Ausschreitungen einlenkte, wurden getragen von einem Jargon, den man den Kampagnen rechtsradikaler Parteien entlehnt hatte. Ein Spiel mit dem Feuer. Auch im medialen Mainstream fanden sich die immer gleichen Bilder von vollen Booten und Zuwandererflut. Doch war diese Affizierung der öffentlichen Meinung die alleinige Ursache? Gewiss spielte die mediale Rückkopplung eine große Rolle. Aber waren nur Parolen ursächlich dafür, dass auch Normalbürger die rechte Gewalt zu unterstützten, ihr applaudierten, sich an ihr sogar beteiligten und damit gegebenenfalls die eigene moralische Grenze zu übertraten? Die Sache ist komplexer. Es liegt im Charakter der hier erlebten konformistischen Rebellion, dass die selbsternannten „Rebellen“ nur durch die Billigung einer breiten Masse der Bevölkerung sich getrauten, ihrem autoritären Charakter freien Lauf zu lassen. Am Ende der Legitimationskette von Medien, Politik und öffentlicher Meinung standen Jugendliche, autoritär geprägt und durch Arbeits- und Perspektivlosigkeit sich degradiert fühlend, die sich dem rechten Lager anschlossen. Vom Narziss zum Nazi ist es nicht weit.

In Hoyerswerda wurden die Weichen auf Entgleisung gestellt. Die folgende Kapitulation der Staatsgewalt gegenüber dem rechten Mob war Ermutigung für weitere Taten. Auch im Westen gab es einen Anstieg rechter Gewalt. Diese aber unterschied sich grundlegend von den Gewaltexzessen im Osten. Die Attentate wie die in den westdeutschen Städten Solingen oder Mölln waren viel brutaler und alles deutete darauf hin: es handelte sich um geplante Attentate, ausgeführt von Einzeltätern. Wenn auch die Ausschreitungen von Rostock und Hoyerswerda von einem gezielt agierenden Kern ausgingen, die damalige Pogromstimmung lässt sich nur aus dem unartikulierten Zusammenwirken von „rebellischer“ Minderheit mit der Duldung durch die Bevölkerung einerseits, doch nicht zuletzt auch durch einen schwach agierenden Staat erklären, dem es nicht gelang, die demokratische Ordnung durchzusetzen und so seine eigene Souveränität in Frage stellte. Welche Lehren sollten die Deutschen, über 20 Jahre später, angesichts der jüngsten rechten Proteste daraus ziehen?

Will man wissen was falsch läuft, wenn heute die Ansätze ähnlicher Entwicklungen wieder sichtbar werden, lohnt es sich einen Blick auf bestehende demografische Probleme zu lenken. Ziehen wir die radikalen sozio-ökonomischen Veränderungen der Nachwendejahre in Betracht. Entgegen allen Versprechen, entstanden im Osten keine blühenden Landschaften. In den Metropolen hat sich gewiss viel zum Positiven verändert. Der Osten ist schöner geworden, die Luft ist besser, das Warenangebot ist reichlich, die Häuser wurden renoviert. Doch die allmähliche Auferstehung historischer Stadtkerne und der Anstieg des Tourismus brachten bislang keine Antwort auf Massenarbeitslosigkeit. So manche Maßnahme zur Umstrukturierung der ostdeutschen Wirtschaft lief ins Leere. Als spöttisch so genannte beleuchtete Wiesen harrten viele Strukturmaßnahmen des nicht eintreten wollenden Aufschwungs. In den Nachwendejahren wurde alles, was nicht niet- und nagelfest war, abgebaut. Ob Elektronik, Braunkohle oder Landwirtschaft, mit der ostdeutschen Wirtschaft ging es bergab. Die Abwicklung volkseigener Betriebe durch die Treuhand geriet nicht zum Vorteil der neuen Bundesbürger. Statt Aufschwung kam für viele der soziale Abstieg. Die einschneidenden Veränderungen, die sich unmittelbar nach dem Mauerfall einstellten, stehen im Zusammenhang mit Ghettoisierungseffekten. Die Gesellschaft der DDR war, so sehen es Soziologen wie Wolfgang Kühnel heute, „hochgradig integriert“. Die starke Sozialintegration in der DDR bot weniger individuell als auf die gesellschaftlichen Subsysteme bezogen, eine verlässliche gesellschaftliche Struktur. Betriebe und lokale Organisationen waren die „Agenten der Vergemeinschaftung“, wie der Historiker Arnd Bauerkämper beschreibt. Die Möglichkeiten zur politischen und sozialen Entkopplung waren teilweise extrem eingeschränkt, wenn nicht kriminalisiert. Dennoch bot diese DDR aus soziologischer Sicht eine stabile Gesellschaft. Mit der Arbeit hing die gesellschaftliche Anerkennung hauptsächlich zusammen, das Selbstwertgefühl, Planbarkeit und Sicherheit des eigenen Lebens. Durch den Fall der Mauer lösten sich die alten Eliten auf. Es kam zu Desintegration, Entraditionalisierung und Freisetzung. Immerhin 3 Mio. Menschen verloren ihre Arbeit. 20% der Beschäftigten gaben laut Umfrage an, Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes zu haben. Die wenigen, die den Aufschwung schafften, entstammten teilweise wieder den alten Eliten. Viele von ihnen zogen in den Westen. Für die Verbliebenen, gerade die Älteren, aber auch für die Jüngeren, eröffnete sich eine düstere Zukunft: Sie würden nie wieder Arbeit finden. Die Lebensleistung der Alten blieb ohne Anerkennung. Die Jungen sahen zu, wie die Arbeits- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten im Eiltempo verfielen.

Westdeutschland organisierte mit dem sogenannten Aufbau-Ost auch den Abbau. Die Masse der Arbeitslosen wurde zum Problem. Die nun auch sprachliche Entwertung durch einen westlichen Wohlstands-Chauvinismus ließ nicht lange auf sich warten. „Ossis“ wurden im frisch geeinten Deutschland zu Bürgern zweiter Klasse degradiert. Statt Vertrauen in eine bessere Zukunft und in die Institutionen des neuen Staats, erwies sich die neue Ordnung als außerordentlich instabil. Die Montagsdemonstrationen waren kaum vergangen. Man hatte den DDR-Staatsapparat klein gekriegt. Doch bei der rasanten Installation einer neuen Gesellschaftsordnung, kam ein Prozess in Gang, der einerseits die Mittelklasse enttraditionalisierte und soziale Kontrolle neu regelte, bei Interessenartikulation aber die neuen Bundesbürger außen vor ließ. Nicht nur beim einzigartig drastischen Niedergang der Beschäftigungsstruktur, auch im Bereich der demokratischen Kultur gab es noch viele lose Verbindungsstränge beim Prozess der Wiedervereinigung. In vielerlei Hinsicht wurden die ehemaligen DDR Bürger ihrer Ressourcen beraubt. Sogenannte „anomische Gefühle“ machten sich breit: Machtlosigkeit, Vereinzelung, Entfremdung, Normlosigkeit und Nutzlosigkeit. Einige reagierten auf die eigene Abwertung mit einer Anrufung des Nationalen. Dabei konnten sie sich auf die letzte verbliebene Ressource berufen: die Ethnie. Mit dem gemeinsamen Deutschsein suchte man, die eigene Abwertung zu überwinden. Dazu brauchte man eine andere Gruppe, die es herabzuwürdigen galt, um die angeblichen Gemeinsamkeiten zu betonen. Die Ausländerfeindlichkeit fiel auf fruchtbaren Boden, durch alle Bevölkerungsschichten hindurch. Ausländerfeindliche Polemik scheint vielen bis heute als Antwort auf das Defizit der Entwicklungs- und Integrationschancen gegenüber eines als übermächtig, abstrakt und zu heterogen empfundenen Westeuropas.

Die nach wie vor stagnierende oder regional auch absteigende wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern und ein gleichzeitiger, auf das gesamte Bundesgebiet bezogener Umbau des Sozialstaats hat sich für die Entwicklung der demokratischen Kultur nicht gerade als förderlich erwiesen. Mit den Hartz-IV Gesetzen wurden Erwerbslose entmündigt und stigmatisiert. Ganze Landstriche haben sich indessen herausgebildet, die von den gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen der Republik zunehmend und immer unabänderlicher abgetrennt wurden.

Dieser permanente Ausschluss ist ein Merkmal von Ghettoisierung. Politische Enthaltsamkeit, Politikverdrossenheit, auch Rassismus und Nationalismus sind Bewohner dieser Ghettos. Immer wieder konnte man in den letzten Jahren beobachten, wie das Auferstehen des Rechtsextremismus mit Entwertung zusammenhängt, wie am Beispiel Griechenland. Gewalttätige rechtsextreme Gruppen können den Zündstoff für den Flächenbrand liefern. Besorgniserregend ist es, wenn ihre Meinungen und Handlungsmuster bei breiteren Bevölkerungsschichten, ja, in der öffentlichen Meinung Akzeptanz finden. Dabei spielen die Medien eine wichtige Rolle: Ist Sarrazin salonfähig? Ist es wirklich demokratisch, demokratiefeindlichem Gedankengut ein Forum zu geben? Im Zeitalter der sozialen Medien und ihren Formen von Selbstorganisation, sollten rechtsradikale Massenagitationen wie die neuerlichen rechten „Montagsdemos“ nachdenklich stimmen. Denn schon längst sind das keine nur ostdeutschen Probleme mehr. Auch in Westdeutschland formiert sich ein neuer Widerstand gegen Ausländer. Die Akteure sind keine klassischen Neonazis. In Köln, Bremen oder Mainz formieren sich rechts-populistische Gruppen im Deckmantel der Bürgerbewegung. Ihnen schließen sich keineswegs nur Jugendliche an. Normalbürger, Rentner, Arbeitslose, Politikverdrossene wollen sich im Recht sehen. In den Medien finden sie Stimmen, die Ihnen Recht geben. Ausländer, Flüchtlinge würden sich nicht einfügen und wollten das Land islamisieren und was daran falsch sei, „deutsch“ zu fühlen. Politiker, rechte Journalisten, sogar Pop-Stars artikulieren dies. Inzwischen organisieren sich Protestdemos gegen Islamisten und Bürgerwehren gegen Flüchtlingsheime. Wer Angst vor dem Herunterkommen des eigenen Stadtteils hat, wird vielleicht auch Angst vor der eigenen Desintegration haben. Ein Symptom mangelnden Vertrauens in die Stabilität der bestehenden Ordnung.

Das Motiv der Integrationsfähigkeit wird gerne in Bezug auf Ausländer angeführt. Aber sollten die Deutschen sich nicht zunächst um ihre eigene Integration bemühen? Wer die Integrationsprobleme bei progressierender Arbeitslosigkeit und Prekarisierung nicht anpackt, verhält sich sträflich. Integration bedeutet eben nicht nur die Einbeziehung von Ausländern in die Gesellschaft. Integration muss sich auf alle Bevölkerungsgruppen beziehen. Wir Deutschen sollten dabei nicht nur an die Integrationswilligkeit denken, sondern auch an die Integrationsmöglichkeiten, und zwar für Alle. Eine insgesamt integrierte Gesellschaft verträgt Unterschiede. Der Umstrukturierung unserer Arbeitswelt müssen wir anders als bisher begegnen. Immer größer werdende Bevölkerungsschichten werden durch die Veränderungen des Arbeitsmarktes betroffen. Die Ankurbelung des Wettbewerbs hat bislang keine neuen Arbeitsplätze geschaffen. Die Hartz-IV Gesetze delegieren die Verantwortung an der Misere an den Einzelnen und stigmatisieren. Gegen die voranschreitende Ghettoisierung Deutschlands muss etwas geschehen. 25 Jahre nach dem Mauerfall die größte Herausforderung an unsere demokratische Kultur. Dazu müssten nicht nur Mauern, sondern auch die Ghettos in den Köpfen weichen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

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Diego Castro, (*1972) ist bildender Künstler, freier Kritiker und Sänger der Kreuzberger Garage-Punk-Band Black Heino.

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