Die Wahlforscher Lügen strafen

Gastbeitrag Am 24. September geht es um 15 Millionen Rentnern, denen Armut droht. Um unterfinanzierte Krankenhäusern. Und um die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
Seit den 1990er Jahren wurde das deutsche Tarifsystem durch atypische Beschäftigung, den Kollaps der ostdeutschen Wirtschaft, Privatisierungen und Liberalisierungen, durch Auslagerungen und Tarifflucht geschwächt
Seit den 1990er Jahren wurde das deutsche Tarifsystem durch atypische Beschäftigung, den Kollaps der ostdeutschen Wirtschaft, Privatisierungen und Liberalisierungen, durch Auslagerungen und Tarifflucht geschwächt

Bild: Imago/Christian Mang

Kurz vor Bundestagswahl haben viele professionelle Auguren Angela Merkel bereits zur Siegerin gekürt. SPD-Chef Martin Schulz hängt in den Seilen. Doch Vorsicht! Die Wahl wird erst in der letzten Runde entschieden. Jeder Zweite weiß noch nicht, wo er am Wahlsonntag sein Kreuz macht. Eines ist jedoch schon heute sicher: Der große Urnengang ist eine politische Richtungsentscheidung für diese Republik. Der Wahlausgang wird großen Einfluss auf die Arbeits- und Lebensbedingungen von Millionen arbeitenden Menschen haben.

Eine erste wichtige politische Weichenstellung betrifft den Arbeitsmarkt. Dessen Regelwerk und Institutionen beeinflussen die Durchsetzungs- und Verhandlungsmacht der Beschäftigten. Mindestlöhne, eine hohe Tarifbindung, viele reguläre Jobs, ein guter Kündigungsschutz und hohe Lohnersatzleistungen verbessern die Verwertungsbedingungen der Ware Arbeitskraft.

Nach einem Jahrzehnt der politischen Entwertung und Entgrenzung der Arbeit, stärkte die große Koalition durch den Mindestlohn erstmals wieder die Verhandlungsposition der Beschäftigten. Die Erosion der Tarifbindung konnte aber nicht gestoppt werden. Ende des 20 Jahrhunderts verhandelten die Gewerkschaften noch für drei von vier Beschäftigten. Die Hälfte der Betriebe war tarifgebunden. Das, was Verdi, IG Metall & Co heute aushandeln, kommt nur noch bei drei von fünf Beschäftigten an. Tendenz sinkend!

Der Tarifflucht folgt das Prekariat

Weniger Tarifschutz bedeutet weniger Lohn, längere Arbeitszeiten, unsichere Jobs und mehr Ungleichheit. Seit den 1990er Jahren wurde das deutsche Tarifsystem durch prekäre und atypische Beschäftigung, durch den Kollaps der ostdeutschen Wirtschaft, durch Privatisierungen und Liberalisierungen, durch Auslagerungen sowie durch die Tarifflucht der Arbeitgeber geschwächt. Ferner unterstützten die Arbeitgeberverbände die Tarifflucht vieler Unternehmen auch noch durch so genannte OT-Mitgliedschaften. Erschwerend hinzu kam die schwindende gewerkschaftliche Organisationsmacht. Aufgrund des ökonomischen Strukturwandels verloren die Gewerkschaften viele Mitglieder. Beschäftigte in unsicheren Arbeitsverträgen, in kleinen Betrieben und in den neuen Dienstleistungsbranchen sind schwieriger organisierbar. Der neoliberale Zeitgeist – jeder ist seines Glückes Schmied – tat ein Übriges.

Die Politik kann Tarifverträge von oben stärken. Hier müsste die neue Bundesregierung dringend handeln. Prekäre zumeist nicht tariflich geschützte Beschäftigungsverhältnisse müssten durch reguläre sozial abgesicherte Arbeitsplätze ersetzt werden. Tarifverträge sollten verbindlicher gemacht werden, indem sie künftig so lange nachwirken bis ein neuer Vertrag an ihre Stelle tritt. Zudem müsste die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen so erleichtert werden, dass Arbeitgeberverbände nicht mehr blockieren können. Dann würden Tarifverträge auch für nicht verbandsgebundene Unternehmen gelten. Ferner sollten der Staat und öffentliche Unternehmen als Vorbild vorangehen und tarifgebunden sein. Sie müssten auf Ausgliederungen in nicht tarifgebundene Betriebe verzichten und Aufträge nur an tarifgebundene Unternehmen vergeben. All diese politischen Maßnahmen würden das Tarifsystem stabilisieren.

Tarifverträge haben noch immer einen guten Ruf. Deswegen loben fast alle Parteien im Wahlkampf die kollektive Lohnfindung. In der Praxis sieht es jedoch anders aus. CDU/CSU und FDP wollen nichts tun, um Tarifverträge zu stärken. Gleichzeitig wollen sie die geringfügige Beschäftigung ausweiten und das Streikrecht einschränken. Damit nehmen die bürgerlichen Parteien eine weitere Erosion des Tarifsystems zustimmend in Kauf. SPD, Grüne und Linke wollen hingegen die Verhandlungsmacht der Beschäftigten stärken. SPD und Grüne haben offensichtlich aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Sie haben inzwischen viele gewerkschaftliche Forderungen zur Stärkung des Tarifsystems übernommen. Die AfD interessiert sich erwartungsgemäß überhaupt nicht für den Tarifschutz der Beschäftigten.

Richtungsentscheidung bei der Rente

Eine zweite politische Richtungsentscheidung steht bei der Rente an. Prekäre Beschäftigung, Niedriglöhne und Rentenkürzungen drohen künftig Millionen Menschen in Altersarmut zu stürzen. Über eine Million ältere und erwerbsgeminderte Menschen sind heute bereits auf Grundsicherung – durchschnittlich 800 Euro – angewiesen. Ihre Zahl hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Das Risiko im Alter in den Armutskeller zu stürzen, trifft künftig auch die Mitte der Gesellschaft. Wer monatlich 2.500 Euro brutto hat, muss heute 40 Jahre in die Rentenkasse einzahlen, um später nicht auf dem Sozialamt zu landen. Da jeder zweite sozialversicherte Beschäftigte weniger als 2.500 Euro bezieht, droht künftig über 15 Millionen Rentnern der Gang zum Sozialamt.

Die Rückkehr der Altersarmut ist politisch gemacht. Der Ausbau des Niedriglohnsektors, die Förderung unsicherer Arbeit und eine asoziale Rentenpolitik sind dafür verantwortlich, dass künftig viele Menschen von ihrer Rente nicht mehr leben können. Die so genannten Rentenreformen der Schröder- und Merkel-Regierungen führten zu einem radikalen Kurswechsel in der Rentenpolitik. Sie opferten den Schutz vor Armut und die Lebensstandardsicherung für stabile Beiträge. Die damalige Bundesregierung schrieb gesetzlich fest, dass der Beitragssatz bis 2030 die 22-Prozent-Marke nicht überschreiten darf. Dafür wurde die gesetzliche Rente um rund 20 Prozent gekürzt. Das war der größte Sozialabbau in der Geschichte der Republik.

In einem reichen Land müssen Alle im Alter in Würde leben können. Wer sein Leben lang gearbeitet hat, darf im Alter nicht in den Armutskeller stürzen. Das ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Deswegen brauchen wir einen Kurswechsel in der Rentenpolitik. Das Sicherungsziel sollte wieder im Zentrum der Rentenpolitik stehen. Wenn die gesetzliche Rente Lohnersatz sein soll, muss zunächst der Sinkflug des Rentenniveaus gestoppt werden. Anschließend muss das Rentenniveau deutlich erhöht werden. Ein höheres Rentenniveau allein verhindert aber keine Altersarmut. Deshalb sollten Zeiten der Arbeitslosigkeit, Kindererziehung und Pflege sowie gering entlohnte Erwerbsphasen rentenrechtlich aufgewertet werden.

Es gibt sehr wohl große Unterschiede

Die gewerkschaftliche Rentenkampagne zwang die Parteien dazu, im Wahlkampf Farbe zu bekennen. Das schafft Klarheit. Auch in der Rentenpolitik gibt es zwischen Parteien große Unterschiede. CDU/CSU wollen bis 2030 rentenpolitisch nichts ändern. Die FDP will mit der Altersvorsorge stärker an die Börse. Folglich sind die bürgerlichen Parteien nichts Anderes als Rentenkürzungsparteien. Gleiches gilt für die AfD. Die neue Rechte fordert die Rente nach 45 Beitragsjahren – eine andere Form der Rentenkürzung. Rot-Grün hat seinen rentenpolitischen Kurs inzwischen korrigiert. SPD und Grüne wollen den Fall des Rentenniveaus stoppen und bei 48 Prozent stabilisieren. Zudem möchten sie Altersarmut mit einer gesetzlichen Solidarrente bzw. einer steuerfinanzierten Garantierente bekämpfen. Die Linke geht darüber hinaus. Sie fordert ein Rentenniveau von 53 Prozent und eine solidarische Mindestrente von 1050 Euro.

Die dritte politische Richtungsentscheidung, die bei der Wahl ansteht, betrifft die staatliche Handlungsfähigkeit. Unser Wohlstand ist in Gefahr. Die Straßen sind voller Löcher. Brücken drohen einzustürzen. In den Schulen bröckelt der Putz. Der Wind- und Solarstrom kommt nicht von Nord nach Süd. Den Krankenhäusern fehlen neue medizintechnische Geräte. Und auf dem Land lahmt das Internet. Die Republik fährt auf Verschleiß. Unternehmen und Staat investieren zu wenig.

Allein der kommunale Investitionsstau beläuft sich auf 126 Milliarden Euro. Ein Fünftel der Autobahnstrecken und zwei Fünftel der Bundesfernstraßen sind in einem schlechten Zustand. Ein Drittel der Eisenbahnbrücken ist über 100 Jahre alt und muss saniert werden. Unter Berücksichtigung des Erweiterungsbedarfs ergibt sich ein jährlicher Investitionsbedarf für die Verkehrsinfrastruktur von zehn Milliarden Euro. Darüber hinaus gibt es großen Investitionsbedarf bei Breitband und Energieversorgung. In den nächsten zehn Jahren müssten in beiden Bereichen insgesamt jeweils 40 Milliarden Euro investiert werden. Doch damit nicht genug. In Kitas, Schulen und Universitäten müssen künftig bis zu 55 Milliarden Euro jährlich investiert werden. Der Investitionsstau bei öffentlichen Krankenhäusern ist auf 50 Milliarden Euro angewachsen. Unter dem Strich summieren sich die notwendigen öffentlichen Zukunftsinvestitionen auf einen jährlichen mittleren zweistelligen Milliardenbetrag.

Die Staatskassen? Geplündert!

Der Verfall der öffentlichen Infrastruktur ist politisch gemacht. Viele Städte und Gemeinden sind heute trotz sprudelnder Steuereinnahmen chronisch unterfinanziert. Die Schröder- und Merkel-Regierungen haben mit milliardenschweren Steuergeschenken die Staatskassen geplündert. Die Steuermindereinnahmen gegenüber dem Steuerrecht von 1998 belaufen sich auf jährlich 45 Milliarden Euro. Doch damit nicht genug. Auch die Sparpolitik im Rahmen von Schuldenbremse und "Schwarzer Null" ging zu Lasten der Investitionen.

Gut ist, dass alle Parteien zukünftig in Bildung, Digitalisierung, Verkehr und Forschung investieren wollen. Der Umfang der angekündigten Investitionen reicht aber hinten und vorne nicht aus, um die gesellschaftlichen Bedarfe zu decken. Die Finanzierungsfrage macht den meisten Parteien einen großen Strich durch die Rechnung. Sie wollen weder mit der Kreditkarte zahlen, noch Reiche und Unternehmen so besteuern, dass sich daraus substantielle Steuermehreinnahmen ergeben. Folglich müssen sie kleinere Brötchen backen. Die SPD will lediglich die Überschüsse des Bundeshaushalts – 7,5 Milliarden Euro pro Jahr – investieren. Die Grünen kratzen jährlich zwölf Milliarden Euro zusammen. Lediglich die Linke will mit Hilfe einer umverteilenden Steuerpolitik ein Investitionsvolumen von 100 Milliarden Euro stemmen. CDU/CSU und FDP hingegen bohren mit milliardenschweren Steuergeschenken ein großes Loch in die Staatskasse. Dadurch wird die öffentliche Investitionsfähigkeit massiv geschwächt. Und die AfD will den Staat auf Zwangsdiät setzen.

In wenigen Tagen treffen die Wählerinnen und Wähler bei der Bundestagwahl eine politische Richtungsentscheidung. Es geht um mehr oder weniger Arbeitnehmerrechte. Es geht um die Zukunft der Rente. Und es geht um staatliche Handlungsfähigkeit. Eine arbeitnehmerorientierte Politik investiert in die Zukunft, stärkt die Durchsetzungsmacht der Beschäftigten, bekämpft Altersarmut und sorgt für ein gerechteres Steuersystem. Deshalb ist es wichtig, dass möglichst viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Parteien wählen, die sich diese Ziele auf ihre Fahnen geschrieben haben.

Gleichzeitig gilt es einen politischen Gau zu verhindern. Eine schwarz-gelbe Regierung wäre ein großer gesellschaftlicher Rückschritt. Die FDP steht weiterhin für einen Magerstaat, für weniger Arbeitnehmerrechte, für Armutsrenten und soziale Spaltung. Eine Regierungsbeteiligung dieser neoliberalen Klientelpartei würde klar zu Lasten der Beschäftigten und sozial Benachteiligten gehen. Ein Grund mehr die Wahlforscher am Wahlsonntag Lügen zu strafen.

Dierk Hirschel ist Bereichsleiter Wirtschaftspolitik, Europa und Internationales der Gewerkschaft Verdi. Er hat eine Ausbildung zum Tischler sowie ein Studium der Politischen Ökonomie in Hamburg und Bremen abgeschlossen und zu Ursachen hoher Einkommen an der Universität Lüneburg promoviert

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