Keine "Nebensächlichkeiten des Wahlkampfes"

Gastbeitrag Will die SPD wieder linke Volkspartei werden, braucht sie emanzipatorische Alternativen zum Kapitalismus, schreibt Dierk Hirschel, Mitglied der SPD-Grundwertekommission
Weder Sigmar Gabriel noch Martin Schulz stehen für eine SPD, die das Zeug zur linken Volkspartei hat
Weder Sigmar Gabriel noch Martin Schulz stehen für eine SPD, die das Zeug zur linken Volkspartei hat

Foto: imago/Jens Jeske

Die deutsche Sozialdemokratie liegt wieder auf dem Krankenbett. Doch so schlecht wie heute, ging es der SPD noch nie. Beim letzten großen Urnengang wählte nur noch jeder Fünfte die älteste Partei Deutschlands. In den letzten 20 Jahren halbierte sich die sozialdemokratische Wählerschaft auf unter zehn Millionen.

Nach drei großen Wahlschlappen müssen die Urenkel August Bebels handeln. Sonst droht den roten Strolchen schlimmstenfalls das Schicksal ihrer griechischen, holländischen oder französischen Schwesterparteien. SPD-Chef Martin Schulz hat verstanden. Der oberste Genosse will das Wahldesaster gründlich aufarbeiten. Das ist gut so. Die Diagnose wird aber schmerzhaft, von der Therapie ganz zu schweigen.

Arbeiter wählen CDU

Die SPD hat in den letzten zwei Jahrzehnten ihre Seele verkauft. Sie wird nicht mehr als natürlicher Anwalt der abhängig Beschäftigten und sozial Benachteiligten wahrgenommen. Unternehmensberater sprechen in einem solchen Fall vom Verlust der Kernkompetenz oder des Markenkerns. Vorbei sind die Zeiten als die deutsche Sozialdemokratie noch als Gesamtbetriebsrat der Republik galt. Heute traut nicht einmal jeder Dritte der alten Tante SPD in Gerechtigkeitsfragen noch etwas zu. Die überwiegende Mehrheit der abhängig Beschäftigten wählt nicht mehr rot. Der sozialdemokratische Stimmenanteil unter Arbeiterinnen und Arbeitern lag am 24. September bei katastrophalen 23 Prozent. Ende des letzten Jahrhunderts machte noch jeder zweite Arbeiter sein Kreuz bei den Genossen. Die CDU ist heute bei Arbeitern beliebter – 25 Prozent Stimmenanteil – als die alte Arbeiterpartei. Die schwarz-braune AfD liegt auf Augenhöhe.

Dieser dramatische Vertrauensverlust begann bekanntlich mit der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Schröder-Regierung. Sie brach mit der fortschrittlichen, emanzipatorischen, sprich reformistischen Tradition der SPD. Die politische Entwertung und Entgrenzung menschlicher Arbeit hinterließ tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis sozialdemokratischer Arbeitnehmermilieus. Die politische Förderung schlecht entlohnter und unsicherer Arbeit, Hartz IV und die Rentenkürzungen verletzten das Gerechtigkeitsempfinden vieler ehemaliger Stammwähler. Oder mit den Worten des Journalisten Heribert Prantl: Für viele alte SPD-Wähler und viele SPD-Sympathisanten war die Agenda 2010 "eine Austrittserklärung der SPD aus ihrer eigenen Geschichte als Partei der kleinen Leute".

Weder die inhaltliche Neuaufstellung der Sozialdemokratie bei den Bundestagwahlen 2013 noch ihre soziale Handschrift in der großen Koalition – Mindestlohn, Rente mit 63, Bekämpfung Missbrauch Leiharbeit und Werksverträge – konnten das verlorene Vertrauen zurückgewinnen. Kein Wunder! Zerstörtes Vertrauen aufzubauen, das braucht Zeit. Zwar setzte die SPD mit ihrem Gerechtigkeitswahlkampf auf die richtigen Themen. Da Sozialdemokraten aber seit 1998 bis auf eine Legislaturperiode (2009 bis 2013) mitregierten, hatten sie viele soziale Missstände, die sie im Wahlkampf skandalisierten, selbst zu verantworten. Die Enkel Willy Brandts wurden immer wieder Gefangene ihrer eigenen Vergangenheit.

Aus dieser Glaubwürdigkeitsfalle fand Martin Schulz zunächst den richtigen Ausweg. Er bekannte sich zu politischen Fehlentscheidungen. Nach seiner Kandidatenkür kritisierte er die zu kurze Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I. Fehler zu machen, sei, so Schulz, nicht ehrenrührig. Wenn jedoch Fehler erkannt würden, müssten sie korrigiert werden. Die vermeintliche Agenda-Kritik des Spitzengenossen löste ein großes Medienecho aus. Die SPD kletterte in den Umfragen steil nach oben. Sogar das Rennen um das Kanzleramt schien plötzlich wieder offen. Dieser Zauber des Anfangs zeigt, welches Potenzial eine sozialdemokratische Partei hierzulande noch immer hat, wenn sie sozialdemokratische Politik macht.

Das neoliberale Märchen von der Agenda

Der „Schulz-Hype“ beruhte jedoch auf einem großen Missverständnis. Weder der neue SPD-Chef noch die überwiegende Mehrheit der Parteiführung wollten zu irgendeinem Zeitpunkt den inhaltlichen Bruch mit der Agenda-Politik. Das war eigentlich nicht überraschend. Schulz gehört seit 1999 den Spitzengremien der Partei an (SPD-Parteivorstand und Parteipräsidium). In dieser Zeit profilierte er sich nie als Kritiker der marktradikalen Agenda-Politik. Im Gegenteil: Im Wahlkampf erzählte Angela Merkels Herausforderer immer wieder die Geschichte von den angeblich wirtschaftlich erfolgreichen Reformen. Schulz beklagte nur, dass Merkel erntet, was Gerhard Schröder gepflanzt habe. Auf dem Dortmunder Parteitag durfte der innerparteilich umstrittene Altkanzler sogar die Eröffnungsrede halten.

Schröders Jobwunder ist aber nur ein populäres neoliberales Märchen. Der vermeintliche Beschäftigungsboom der letzten 15 Jahre sprengte nie den Rahmen einer gewöhnlichen Konjunkturerholung. Nach den „Reformen“ stieg die Beschäftigung – unter Beachtung der ungleichen Dauer der Aufschwünge – nicht stärker als vor den „Reformen“. Die Jobrekorde sind maßgeblich darauf zurückzuführen, dass vorhandene Arbeit zu prekären Bedingungen umverteilt wurde und das Ausland mehr deutsche Waren kaufte. Wenn Unternehmen Vollzeitstellen in Teilzeit- oder Minijobs umwandeln freuen sich die Nürnberger Statistiker. Die Erwerbstätigkeit stieg von 39 (2005) auf 43,5 Millionen (2016). Das aktuelle Arbeitsvolumen – die Zahl der bezahlten Arbeitsstunden – ist hingegen nicht rekordverdächtig. Von Rostock bis München wird heute nicht mehr gearbeitet als vor 25 Jahren. Zwischen Agenda-Politik und Jobwachstum respektive sinkender Arbeitslosigkeit gab es einen zeitlichen aber keinen kausalen Zusammenhang.

Der Streit um die Agenda-Politik ist keine ideologische Spiegelfechterei. Die Haltung zur Agenda-Politik bringt – bewusst oder unbewusst – einen wirtschaftstheoretischen und wirtschaftspolitischen Standpunkt zum Ausdruck. Wer an das Jobwunder-Märchen glaubt, schluckt zentrale neoliberale Deutungs- und Argumentationsmuster – sehr zur Freude der Wirtschaftseliten. Wer befürchtet, dass ein verkrusteter Arbeitsmarkt oder hohe Steuern und Sozialabgaben der Wirtschaft schaden, der kann sich nicht für eine umfassende Re-Regulierung des Arbeitsmarktes und einen Ausbau des Sozialstaates begeistern.

Seit ihrer inhaltlichen Neuaufstellung 2013 leistet sich die SPD politische Parallelwelten. Der Gerechtigkeitsdiskurs steht im eklatanten Widerspruch zum Agenda-Diskurs. Dieser Antagonismus überfordert selbst eine Volkspartei. Die Parteiführung hat diesen Konflikt nicht austragen und entscheiden lassen, sondern stets wegmoderiert. Das funktioniert aber nicht. Hier liegt die zentrale inhaltlich-programmatische Ursache für den schlechten Gesundheitszustand der SPD. Zweifelsohne haben eine späte Kandidatenkür sowie eine von Pleiten, Pech und Pannen geprägte Kampagne den Wahlchancen der Sozis geschadet. Die beste Kampagne ist aber ohne Diskursfähigkeit und gesellschaftliche Meinungsführerschaft von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

Leihbarbeit? Minijoibs? Hartz IV?

Folglich konnte die SPD ihren Gerechtigkeitswahlkampf nur mit angezogener Handbremse und teils widersprüchlichen Botschaften führen. Zu schwer wog noch immer die Erblast der Agenda 2010. Dazu einige Beispiele: Im insgesamt arbeitnehmerfreundlichen Wahlprogramm fehlten besonders konfliktbehaftete arbeitsmarktpolitische Re-Regulierungsvorschläge. So drückten sich die Genossen um eine gesetzliche Regelung der Leiharbeit, die gleichen Lohn für gleiche Arbeit vom ersten Verleihungstag an festschreibt. Eine Sozialversicherungspflicht von Minijobs ab dem ersten Euro schaffte es ebenfalls nicht ins Programm. Ferner wollten die Sozialdemokraten keine allgemeine Verlängerung des ALG I oder eine umfassende Reform von SGB II und Hartz IV, etwa in Sachen´ Regelsätze und Zumutbarkeit. Stattdessen wurde mit der Einführung eines Arbeitslosengeldes Q geworben.

Bei der Rente korrigierte die SPD zwar im Wahlprogramm den Kurs der rot-grünen Regierung. Dafür standen beispielhaft die Forderungen nach einem Rentenniveau von 48 Prozent und einer Solidarrente. Eine überzeugende Antwort auf die drohende Gefahr millionenfacher Altersarmut gaben die wahlkämpfenden Sozialdemokraten damit aber nicht. Von einer Sicherung des Lebensstandards im Alter ganz zu schweigen.

Doch damit nicht genug. Auch mit den angekündigten Bildung-, Pflege-, Verkehrs-, und Wohnungsbauinvestitionen konnte die SPD nicht mobilisieren. Die avisierten Mehrausgaben hätten hinten und vorne nicht ausgereicht, um die großen gesellschaftlichen Bedarfe zu decken. Das war nicht der Rechenschwäche des Willy-Brandt-Hauses geschuldet. Wer weder neue Schulden machen, noch die Steuern erhöhen will, dem fehlt am Ende das nötige Kleingeld für eine öffentliche Investitionsoffensive. Das sozialdemokratische Steuerkonzept sorgte zwar für mehr Steuergerechtigkeit. Ohne eine stärkere Besteuerung von großen Vermögen, Erbschaften und Unternehmensgewinnen konnten jedoch keine substantiellen Mehreinnahmen erzielt werden.

Kurzum: Gut gemeint ist nicht gut gemacht. Der gute Wille, die soziale Frage ins Zentrum des Wahlkampfs zu stellen, reichte nicht aus. Die SPD konnte sich von den konservativen Parteien nicht abgrenzen, da sie keine klaren politischen Alternativen hatte. Folgerichtig wurde den roten Strolchen in wichtigen Politikbereichen des Gerechtigkeitswahlkampfs weniger (Rente und Schule/Bildung) oder nur unwesentlich mehr (Familie und Steuern) zugetraut als den Unionsparteien. Ein roter Warenhauskatalog mit vielen guten Einzelforderungen und Änderungsvorschlägen ist kein gesellschaftspolitisches Reformkonzept. Zudem erhöhte die fehlende Machtoption nicht gerade die Umsetzungschancen.

Ran an den Kapitalismus!

Die SPD muss sich erneuern. Die Partei braucht wieder ein reformpolitisches Konzept. Dafür müssen zunächst alte neoliberale Deutungs- und Argumentationsmuster entsorgt werden. Ein Paradigmenwechsel tut not.

Die neue rote Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles fordert zu Recht, dass Sozialdemokraten wieder lernen müssen, den Kapitalismus zu verstehen und, wo nötig, scharf zu kritisieren. Im Mittelpunkt sollte dabei die Analyse und Kritik der Macht- und Ungleichheitsstrukturen des Kapitalismus stehen. Das gilt besonders für einen Finanzmarktkapitalismus, der krisenanfälliger, ungleicher, umwelt- und demokratiefeindlicher ist als sein Rheinischer Vorgänger.

Die wichtigste Aufgabe einer sozialdemokratischen Partei ist noch immer die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung. Das war und ist die DNA des sozialdemokratischen Reformismus. Sozialdemokratische Politik muss arbeitnehmerorientierte Politik sein. Sozialdemokraten sollten konsequent für sichere, gesunde und tariflich entlohnte Arbeit – gute Arbeit – streiten und die Lebensrisiken der Beschäftigten mit Hilfe des Sozialstaats minimieren. Das erfordert eine höhere Tarifbindung, die Eindämmung von Niedriglöhnen und prekärer Beschäftigung sowie eine Lebensstandardsicherung bei Arbeitslosigkeit, Rente, Invalidität und Krankheit. Ferner muss die SPD fortschrittliche Antworten auf den Wandel der Arbeitswelt – Arbeit der Zukunft – durch Digitalisierung, neue Geschlechterrollen, demographischen Wandel und Migration geben. Hier geht es u.a. um die Aufwertung von Dienstleistungsarbeit, Arbeitszeitsouveränität, Qualifizierung und Humanisierung der Arbeit.

Gegen die Kapitalinteressen

Eine solche arbeitnehmerorientierte Politik trifft natürlich auf den Widerstand mächtiger Wirtschafts- und Kapitalinteressen. In der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik geht es immer um Macht- und Verteilungsfragen. Auf dem Arbeitsmarkt begegnen sich Beschäftigte und Arbeitgeber nicht auf Augenhöhe. Dieses Machtungleichgewicht kann nur durch gewerkschaftliche Organisierung, durch Tarif- und Arbeitsrecht, durch Mitbestimmungsrechte sowie Sozialtransfers ausgeglichen werden. Die Stärkung der Durchsetzungsmacht der abhängig Beschäftigten war einmal eine große historische Leistung der Sozialdemokratie. Starke Gewerkschaften und ein arbeitnehmerfreundliches Regelwerk waren und sind das beste Rezept gegen die Ungleichheit. An diese Tradition muss die SPD wieder anzuknüpfen. Dass der Nationalstaat in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung noch arbeitsmarkt- und sozialpolitisch handlungsfähig ist, zeigen unsere skandinavischen und österreichischen Nachbarn.

Doch damit nicht genug. Die SPD braucht in ökonomischen Fragen mehr Keynes und weniger Erhard. Den Sozialdemokraten fehlt bis heute eine gesamtwirtschaftliche Sicht auf die Wirtschaft. In der Partei Kautskys, Bernsteins, Hilferdings und Schillers gab es in diesem Jahrtausend keine ernstzunehmende wirtschaftspolitische Debatte mehr. Folglich fehlt ein eigenes wirtschaftspolitisches Konzept. Fast zwangsläufig orientiert sich die alte Tante SPD am ökonomischen Mainstream und greift immer wieder in dessen angebots- und ordnungspolitische Mottenkiste.

Wirtschaftskompetenz besteht aber nicht darin, den Ratschlägen und Empfehlungen des örtlichen Sparkassenvorsitzenden, Baulöwen oder Start-up-Unternehmers blind zu folgen. Der Arbeitsmarkt funktioniert nicht wie ein Kartoffelmarkt, wo der Preis – sprich der Lohn – das Angebot und die Nachfrage bestimmt. Ob Unternehmen Arbeitskräfte einstellen, hängt nicht primär von der Lohnhöhe ab. Die Unternehmen investieren, wenn es ihre Auftragslage erfordert. Der Güter- und nicht der Arbeitsmarkt entscheidet darüber, wie sich die Beschäftigung entwickelt. Vollbeschäftigung entsteht nicht durch individuelles Handeln – Fordern und Fördern –, sondern durch wirtschaftspolitische Entscheidungen. Deswegen ist eine gesamtwirtschaftliche Steuerung der Nachfrage durch Finanz- Geld- und Lohnpolitik von zentraler Bedeutung.

Das erfordert ein Umdenken bei den Staatsfinanzen. Ein Staatshaushalt darf nicht geführt werden wie der Privathaushalt der schwäbischen Hausfrau. Schulden sind kein Teufelszeug. Entscheidend ist immer, wofür die Kredite verwendet werden. Schwarze Null und Schuldenbremsen verhindern hingegen Investitionen. Sozialdemokraten sollten die staatliche Einnahmebasis stärken. Höhere Steuern und Abgaben sind entgegen der Behauptung wirtschaftsliberaler Elfenbeinturmbewohner kein Wachstums- und Jobkiller. Im Gegenteil: Die erweiterten Finanzierungsspielräume könnten genutzt werden, um in die Zukunft zu investieren und die Daseinsvorsorge auszubauen. Gleichzeitig würde eine stärkere Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen die Ungleichheit reduzieren und so Wachstum und Beschäftigung fördern.

Mehr Europa, aber anders

Erst ein handlungsfähiger Staat kann die Produktivkräfte des Kapitalismus weiterentwickeln und den Strukturwandel aktiv gestalten. Digitalisierung, Verkehrs- und Energiewende dürfen nicht sozial und ökologisch blinden Märkten überlassen werden. Industrie- und Dienstleistungspolitik, Struktur- und Regionalpolitik sowie Forschungs- und Innovationspolitik sollten Richtung und Tempo der Veränderung vorgeben.

Die neue Reformpolitik müsste in Zeiten intensiver globaler Verflechtungen natürlich europäisch ausgerichtet sein. Getreu dem Motto: Mehr Europa, aber anders. Ein demokratisches und soziales Europa erfordert eine andere Wirtschaftspolitik, ein gemeinsames Schuldenmanagement, eine Koordination der nationalen Sozialpolitiken, stärker regulierte Finanzmärkte und eine europäische Wirtschaftsregierung. Letztere könnte europäische Investitionsvorhaben umsetzen. Die Fesseln der Schuldenregeln des Maastrichter Vertrags und des Stabilitätspaktes sollten abgelegt werden. Eine europäische Sozialunion könnte künftig Fehlentwicklungen bei Löhnen und Einkommen verhindern. Zu diesem Zweck sollten die nationalen Tarifsysteme gestärkt und europäische Regeln für nationale Mindestlöhne entwickelt werden.

Diese ersten pragmatischen Schritte reichen aber nicht aus. Wenn die SPD die Deutungshoheit linker Politik zurückerobern und wieder linke Volkspartei werden will, dann braucht sie emanzipatorische gesellschaftliche Alternativen zum Kapitalismus. Dabei geht es im Kern um demokratisch egalitäre Entwürfe einer anderen Welt.

Reale Utopien

Eine solche reale Utopie wäre beispielsweise die demokratisch gestaltete sozial-ökologische Transformation unserer Gesellschaft. Unsere Produktions- und Lebensweise muss sich ändern. Der fortschreitende Raubbau an den natürlichen Ressourcen und der Klimawandel bedrohen Lebenschancen und Lebensqualität. Der notwendige sozial-ökologische Umbau kann aber nur erfolgreich gestaltet werden, wenn abhängig Beschäftigte und Zivilgesellschaft demokratisch beteiligt werden. Die Verbindung der sozialen und ökologischen Frage mit der Demokratiefrage sollte wieder zu einem zentralen Anliegen der Sozialdemokratie werden. Die SPD könnte hier an die großen sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Debatten über Wirtschaftsdemokratie (1920er, 1950er und 1970er Jahre) anknüpfen.

Sozialdemokraten haben lange dafür gestritten, dass die gesellschaftliche Macht über die Wirtschaft ausgeweitet wird. Gesellschaftliche Macht ist in diesem Zusammenhang mehr als die Macht des demokratischen Staates. Es geht auch um die Selbstorganisation der Bürger, Produzenten und Konsumenten.

Demokratie darf nicht vor dem Werkstor endet. Die Unternehmen müssen stärker demokratisiert werden. Dafür sollten die betriebliche Mitbestimmung und die Unternehmensmitbestimmung ausgeweitet und vertieft werden. Die Beschäftigten und ihre Betriebs- und Personalräte müssen in allen wichtigen wirtschaftlichen Fragen – Betriebsänderungen, Entlassungen, Arbeitszeit, Personalbemessung, etc. – mitentscheiden. Wirtschaftsdemokratie bedeutet aber auch eine stärkere demokratische Steuerung wirtschaftlicher Prozesse auf regionaler und sektoraler Ebene. Dies könnte beispielsweise mit Hilfe von Wirtschafts- und Sozialräten, Branchenräten sowie öffentlichen Investitionsfonds geschehen. Kapitalsammelstellen in Arbeitnehmerhand – angelehnt an das Konzept des schwedischen Gewerkschaftsökonomen Rudolf Meidner – könnten die gesellschaftliche Kontrolle über regionale und volkwirtschaftliche Investitionen ausüben. Dort, wo Märkte, Wettbewerb und Privateigentum ihren Wohlfahrtszweck nicht oder nur mangelhaft erfüllen, müssten sie durch andere Eigentumsformen und Verfahren ersetzt werden. Bildung, Gesundheit und Pflege sind keine Waren, sondern öffentliche Güter. Sie sollten in einem öffentlichen und gemeinwirtschaftlichen Sektor durch öffentliche Unternehmen, Genossenschaften und Wohlfahrtsverbände erbracht werden. Darüber hinaus umfasst Wirtschaftsdemokratie auch die demokratische Beteiligung von Beschäftigten und Zivilgesellschaft an der Formulierung der allgemeinen Wirtschaftspolitik (Geld-, Finanz-, Steuer-, Strukturpolitik etc.).

Recht auf Arbeit

Eine weitere reale Utopie wäre ein Recht auf gute Arbeit. Ein individuell einklagbarer Rechtsanspruch auf existenzsichernde, gesunde und sozial versicherte Arbeit. Auch hier bedarf es eines großen öffentlichen und gemeinwirtschaftlichen Sektors, der die guten Arbeitsplätze schafft, welche die privaten Unternehmen nicht anbieten.

Weitere emanzipatorische Projekte, die Herrschaft, Ungleichheit und Privilegien in Frage stellen, gibt es reichlich. Die sozialdemokratische Partei sollte wieder zu einem Ort werden, wo Debatten über gesellschaftliche Alternativen ausgetragen werden. Diese Debatten sollten gemeinsam mit Linken, Grünen, Gewerkschaften, Umweltverbänden und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen geführt werden. Gemeinsames Ziel sollte sein, ein ausstrahlungskräftiges Leitbild einer Gesellschaft zu entwickeln, in der wir leben wollen.

Es gibt also viel zu tun. Sollte die SPD Wort halten und sich die nächsten vier Jahre auf die Oppositionsbank setzen, steigen die Chancen auf eine erfolgreiche Reha. Ohne rote Ministerinnen und Minister können die Genossen endlich ihre ideologischen Altlasten entsorgen und an alternativen Projekten und Strategien arbeiten. Mit einer konsequent arbeitnehmerorientierten Politik kann die SPD ihre Kompetenz in Gerechtigkeitsfragen stärken. So können ehemalige Stammwähler zurückgewonnen werden. Das würde nicht nur den Gesundheitszustand der SPD verbessern. Wenn der Sozialdemokratie ein inhaltlicher Neustart gelingt, dann kann auch ein linkes Reformbündnis mittelfristig wieder gesellschaftliche Mehrheiten gewinnen. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Dierk Hirschel ist ausgebildeter Tischler, promovierter Volkswirt, Bereichsleiter Wirtschaftspolitik der Gewerkschaft Verdi und Mitglied der SPD-Grundwertekommission

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