Der Streit über den Nutzen des Freihandels hat eine lange Geschichte. Vor fast 200 Jahren veröffentlichte David Ricardo seine „Principles of Political Economy and Taxation“. In diesem Standardwerk der Politischen Ökonomie entwickelte der große britische Nationalökonom seine Handelstheorie. Ricardos Botschaft lautete: Grenzenloser Handel schafft Wohlstand für Alle. Der internationale Handel hilft Volkswirtschaften, sich darauf zu konzentrieren, was sie am besten können. Wer sich spezialisiert, produziert effizienter.
Die Wirklichkeit sieht anders aus. Nicht alle profitieren von größeren Märkten und mehr Wettbewerb. Freier Handel produziert auch Verlierer. Ricardos Theorie ignorierte die Rolle des Geldes, die Größenvorteile bei Produktion und Absatz – so genannte Skalenerträge - sowie die Marktmacht der Unternehmen. 150 Jahre nach Ricardo zeigte US-Nobelpreisträger Paul Krugman, dass Freihandel in erster Linie den wirtschaftlich Starken nutzt. Vom Abbau der Handelsschranken profitieren die reichen Industrieländer und transnationale Konzerne. Vermachtete Märkte und Massenproduktion prägen heute den Welthandel. Der branchenübergreifende Austausch von Waren und Dienstleistungen – geprägt durch Ricardos komparative Kostenvorteile - macht nur noch ein Fünftel des Welthandels aus. Vier Fünftel des Welthandels besteht aus dem Austausch gleichartiger Güter. Deutschland, Frankreich, Italien oder Großbritannien tauschen miteinander Autos, Maschinen und Medizingeräte.
Der gescheiterte Praxistest schadete jedoch nicht der Popularität der Freihandelslehre. Schon zu Ricardos Zeiten diente die Freihandelsdoktrin den Interessen der wirtschaftlich Mächtigen. Das Märchen vom Wohlstand für Alle sollte darüber hinwegtäuschen, wem der Handel wirklich nützt. Zudem sollte die Freihandelslehre von der realen Handelspolitik der Industrieländer ablenken.
Unter der Fahne des Freihandels zwang Großbritannien seine Kolonien ihre Märkte für britische Waren zu öffnen. Gleichzeitig verhinderte London aber die Einfuhr indischer Textilerzeugnisse oder nordamerikanischer Agrarprodukte. Auch Deutschland, Frankreich und die USA nahmen es im 19 Jahrhundert mit dem freien Warenaustausch nicht so genau. Jahrzehntelang schützten sie ihre heimische Wirtschaft vor ausländischer Konkurrenz. Nur so konnten sie sich überhaupt industrialisieren. Erst als die heimischen Unternehmen international wettbewerbsfähig waren, wurden die neuen Industrieländer zu eifrigen Parteigängern des Freihandels. Kurzum: Die Wirtschaftsgeschichte entlarvt die Freihandelsdoktrin als Ideologie.
Das hat sich bis heute nicht geändert. Davon zeugen die unerfüllten Versprechen der großen europäischen und nordamerikanischen Freihandelsprojekte. Auch dort wurden spezifische Unternehmensinteressen als Allgemeininteresse verkauft. Vor Schaffung des EU-Binnenmarkts versprach der so genannte Cecchini-Report umfangreiche Wachstums- und Beschäftigungsgewinne. Der schrankenlose europäische Handel sollte zwischen zwei bis fünf Millionen neue Jobs schaffen. Pustekuchen! Eine vergleichbare Werbekampagne gab es in Nordamerika. Der Abbau der Handelsschranken zwischen USA, Kanada und Mexiko sollte allein den Vereinigten Staaten jährlich 170.000 neue Jobs bescheren. Tatsächlich gingen zwischen New York und Los Angeles eine Million Arbeitsplätze verloren.
Trotz dieser miserablen Bilanz hält der Fanclub des Freihandels weiter an seiner alten Marketingstrategie fest. Für das aktuelle transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) wird wieder mit Wachstum und Jobs geworben. Die Wohlstandsversprechen fallen jedoch diesmal bescheidener aus. Europa und die USA tauschen bereits eifrig Güter aus. Die durchschnittlichen Zölle liegen in den USA bei 3,5 Prozent und in Europa bei 5,2 Prozent. Da ist nicht mehr viel Luft.
Nach einer Studie des Center for Economic Policy Research – im Auftrag der EU-Kommission – soll TTIP bis 2027 der EU ein Wachstumsplus von 0,5 Prozent bescheren. Dies entspricht einem jährlichen Wachstum von 0,034 Prozent. Darüber hinaus prophezeit die wirtschaftsliberale Bertelsmann-Stiftung für Deutschland 180.000 neue Jobs. Das sind 13.000 neue Arbeitsplätze pro Jahr. Diese bescheidenen Zuwächse liegen im statistischen Unschärfebereich. Das ist Kaffeesatzleserei statt empirische Wirtschaftswissenschaft. Auch diesmal werden die Erwartungen nicht erfüllt werden.
Die treibende Kraft der handelspolitischen Globalisierung sind die transnationalen Konzerne. Unternehmen, die im Wettbewerb bestehen wollen, müssen u.a. neue Produkte und Produktionstechniken einführen. Je mehr verkauft wird, desto günstiger kann das einzelne Produkt hergestellt werden. Unternehmen können diese Größenvorteile nutzen, indem sie grenzüberschreitend produzieren und globale Absatzmärkte erschließen. Folglich nahm der Einfluss der großen Multis zu. Ihre Zahl stieg in drei Jahrzehnten von 35.000 auf über 82.000. Zwei Drittel des Welthandels sind in Hand der Global Player.
Das rückläufige Wachstum der führenden Industrieländer führt zu einer verstärkten Suche nach neuen Absatzmärkten. Deswegen wird die Kommerzialisierung noch nicht ökonomisierter Bereiche unserer Gesellschaft immer wichtiger. Diese kapitalistische Landnahme erstreckt sich auf das Bildungs- und Gesundheitswesen, die kommunale Wasserversorgung und die Kultur, ebenso wie auf die sozialen Sicherungssysteme. Kein Lebensbereich ist vor der Verwertungslogik mehr sicher.
Die transnationalen Konzerne drängen schon lange auf eine Öffnung der Dienstleistungsmärkte und den Ausbau ihrer Unternehmensrechte. Dafür sollen so genannte Handels- und Investitionshemmnisse beseitigt werden. Die staatlichen Handlungsspielraume sollen zugunsten des Marktes eingeschränkt werden. Es geht um marktkonforme Demokratie.
Die Welthandelsorganisation (WTO) konnte jedoch bis heute keinen Durchbruch erzielen. Das generelle Abkommen zum Handel mit Dienstleistungen (GATS) ging den Protagonisten des Freihandels nicht weit genug. Hier konnten die Mitgliedsstaaten noch entscheiden, welche Bereiche sie liberalisieren wollen und welche nicht. Daher vollzogen die Multis einen Strategiewechsel. Seitdem wird die neoliberale Freihandelsagenda über bilaterale Freihandels- und Investitionsabkommen vorangetrieben. Aktuell verhandeln rund 110 Länder über mehr als 22 regionale Abkommen.
Hierzulande diskutiert die Republik über drei große Freihandelsinitiativen, welche die EU-Kommission angeschoben hat: Das transatlantische Freihandelsabkommen- und Investitionsabkommen (TTIP), das europäisch-kanadische Freihandelsabkommen (CETA) und das Abkommen zum Handel mit Dienstleistungen (TISA). Letzteres ist ein plurilaterales Abkommen und wird außerhalb der WTO verhandelt.
Dass die Verhandlungen parallel geführt werden ist kein Zufall. Blockaden in einem Verhandlungsprozess, können durch Fortschritte in einem Anderen wettgemacht werden. Wenn auch nur eine einzige Einigung zustande kommt, ist das strategische Ziel erreicht. Die Handelsgespräche werden in Hinterzimmern geführt, zu denen die Wirtschaftslobby freien Zutritt hat.
Wie die Unternehmen Einfluss nehmen, zeigen beispielhaft die Verhandlungen zum transatlantischen Freihandelsabkommen. Auf dem EU-USA Gipfel 2007 wurde ein transatlantischer Wirtschaftsrat (TEC) gegründet. Die Lobbyisten und Berater des TEC waren u.a. der europäische Arbeitgeberverband „Business Europe“, die US-amerikanische Handelskammer und die Bertelsmann Stiftung. Der Wirtschaftsrat setzte eine Arbeitsgruppe ein, welche TTIP inhaltlich vorbereitete. Anschließend organisierte die EU-Kommission etwa 120 Treffen mit Unternehmensvertretern. Die EU-Kommission (DG-Trade) hatte insgesamt 560 Lobbykontakte, davon über 90 Prozent mit Konzernen und deren Verbänden. Besonders intensiv intervenierten Unternehmen und Verbände aus den USA, Deutschland und Großbritannien. Lebensmittelkonzerne, Agrarhändler und Saatgutindustriehatten mehr Gesprächsbedarf als die Pharma-, Chemie-, Finanz- und Autoindustrie. Auf EU-Ebene bündeln Business Europe und der Verband der exportorientierten Dienstleistungsunternehmen European Services Forum die Interessen der europäischen Unternehmenslandschaft.
Alle drei Abkommen streben nach einer umfassenden Liberalisierung von Dienstleistungen. Die neue Generation von EU-Handelsabkommen soll den Sachzwang zur Marktöffnung verschärfen und einmal erreichte Liberalisierungsniveaus festschreiben.
Bisher war es üblich, dass einzelne Staaten sich verpflichteten konnten, ausgewählte Branchen zu liberalisieren. Diese Wirtschaftssektoren wurden in so genannten Positivlisten aufgeführt. Nun soll das Verfahren umgedreht werden. Künftig sollen die Bereiche benannt werden, die nicht liberalisiert werden sollen. Alles, was nicht auf der Negativliste steht, kann dem Markt überlassen werden. Zudem sollen so genannte Sperrklingenklauseln einmal eingegangene Liberalisierungsverpflichtungen unumkehrbar machen. Eine Rekommunalisierung ehemals privatisierter Unternehmen wäre damit ausgeschlossen.
Unklarheit herrscht darüber, über welche öffentlichen Dienstleistungen konkret verhandelt wird. Während TTIP und CETA öffentliche Dienstleistungen, wie die Wasserversorgung, das Gesundheits-, das Verkehrs- und Bildungswesen angeblich ausklammern, macht TISA die Daseinsvorsorge ausdrücklich zum Gegenstand der Verhandlungen.
Auf der Wunschliste der europäischen Freihandelsbefürworter steht auch das öffentliche Beschaffungswesen. Ausländische Anbieter sollen gleichen Zugang zu öffentlichen Aufträgen bekommen. Wenn ausländische Firmen bei der öffentlichen Vergabe völlig gleichbehandelt werden müssen, verlieren die staatlichen Ebenen ein wichtiges politisches Gestaltungsinstrument. Das in der EU geltende Subsidiaritätsprinzip, wonach Kommunen, Länder und Mitgliedsstaaten ihre Daseinsvorsorge weitgehend selbst gestalten, kommt unter die Räder und greift nur noch für kleine Aufträge unterhalb von Schellenwerten.
TTIP, CETA und TISA gefährden auch nationale Arbeits-, Sozial-, Umwelt- und Verbraucherstandards. Die Regelwerke der Verhandlungspartner sind sehr unterschiedlich. In den USA endet in vielen Betrieben die Demokratie am Werkstor. Die Vereinigungs- und Kollektivverhandlungsfreiheit ist eingeschränkt. Gewerkschaftsarbeit wird erheblich erschwert. Jüngste Beispiele sind das VW-Werk in Chattanooga oder T-Mobile USA. Dort gibt es massiven politischen Widerstand gegen die Einrichtung gewerkschaftlicher Interessenvertretungen. Bis heute haben die Vereinigten Staaten nur zwei von acht ILO-Kernarbeitsnormen ratifiziert. Doch damit nicht genug: In Europa herrscht das Vorsorgeprinzip. Verfahren und Produkte gelten so lange als unsicher, bis das Gegenteil bewiesen ist. In den USA werden Waren so lange zugelassen, bis feststeht, dass sie schädlich sind. Wie die unterschiedlichen Standards harmonisiert werden sollen, ohne dass nationale Schutzrechte beschnitten werden, bleibt bis heute das Geheimnis der EU-Kommission.
Direkte Eingriffe in nationale Regelwerke sind zwar nicht zu erwarten. Investorenschutz und Regulierungsräte sind jedoch geeignete Instrumente, um gesetzliche Vorschriften auszuhebeln.TTIP und CETA beinhalten bekanntlich ein Klagerecht für Investoren. Mit Hilfe eines privaten Schiedsgerichts könnten US-Konzerne künftig EU-Staaten auf Schadensersatz verklagen, wenn ihre erwarteten Profite durch staatliche Regulierung beeinträchtigt werden. Zudem sollen künftig Regulierungsräte, unter dem Einfluss mächtiger Wirtschaftslobbyisten, darüber verhandeln, wie verschiedene nationale Standards angeglichen werden.
Unter dem Strich überwiegen die Gefahren und Risiken der jüngsten Freihandelsinitiativen. Beschäftigte, Verbraucher sowie klein- und mittelständische Unternehmen befinden sich auf der Verliererstraße. Deswegen ist es gut, dass sich in vielen Ländern breiter zivilgesellschaftlicher Widerstand formiert hat.
In diesem Zusammenhang haben die NGOs eine verdienstvolle Arbeit geleistet. Ihnen ist es in erster Linie zu verdanken, dass TTIP, CETA & Co heute kritisch diskutiert werden. Ihre jüngste Initiative zum Start einer europäischen Bürgerinitiative (EBI) gegen TTIP und CETA, wird die gesellschaftliche Debatte weiter befördern. So gerät die EU-Kommission unter Zugzwang. Brüssel muss nun nachzuweisen, warum die Befürchtungen der Kritiker angeblich alle unbegründet sind.
Zu den Kritikern der Freihandelsabkommen gehören auch die deutschen Gewerkschaften. Verdi, IG Metall & Co haben rote Linien gezogen: Investorenschutz und Regulierungsräte werden kategorisch abgelehnt. Öffentliche Dienstleistungen, Kultur und das öffentliche Beschaffungswesen sind aus gewerkschaftlicher Sicht nicht verhandelbar. Zudem müssen Mitbestimmungs- und Arbeitnehmerrechte auf höchstem Niveau gesichert werden. Inhaltlich gibt es auf dieser Grundlage große Übereinstimmung mit den NGOs. Taktisch setzen die Gewerkschaften nicht wie die NGOs auf den sofortigen Abbruch der Verhandlungen. Sie suchen vielmehr den intensiven Dialog mit Regierung und Parlament, um so die Verhandlungen zu beeinflussen. Das unterschiedliche taktische Vorgehen muss keine Schwäche sein. Vielmehr können NGOs und Gewerkschaften auf unterschiedlichen Wegen größere Bevölkerungskreise zu erreichen. Das verbreitert die Bewegung gegen eine neoliberale Freihandelsagenda.
Es geht aber nicht nur um einen Abwehrkampf. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat Recht, wenn er den Anspruch einer sozialen Gestaltung der Globalisierung formuliert. Aber was heißt das konkret?
Wer die Globalisierung sozial gestalten will, muss Handel mit Arbeitnehmerrechten verknüpfen. Die Einhaltung grundlegender Arbeitnehmerrechte entscheidet dann über den Marktzugang. Deswegen sollten Freihandelsabkommen immer eine Sozialklausel enthalten. Im Mittelpunkt stehen die Kernarbeitsnormen der internationalen Arbeitsorganisation (Vereinigungsfreiheit, Recht auf Kollektivverhandlungen, Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit, Verbot der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf, Beseitigung von geschlechtsspezifischer Lohndiskriminierung). Sie müssen wie universelle Menschenrechte behandelt werden. Der ILO fehlt es jedoch bis heute an effektiven Durchsetzungsmaßnahmen. Ohne Sanktionen kann nicht sichergestellt werden, dass die ILO-Konventionen auch eingehalten werden. Verstöße gegen die Kernarbeitsnormen müssen künftig zu Streitschlichtungsverfahren führen. Bleibt die Schlichtung ergebnislos, müssen Geldstrafen und/oder Handelssanktionen folgen.
Europa hat die Kraft eine Agenda des fairen Handels zu schreiben. Die laufenden Verhandlungen bieten die Chance für einen globalen sozialen Standard. Bis heute verfolgt die EU-Kommission jedoch andere Ziele. Solange jedoch Profite wichtiger sind als Menschen, ist es besser wenn die Verhandlungen scheitern.
Dierk Hirschel ist seit 2011 Ver.di-Bereichsleiter Wirtschaftspolitik
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