Oh, du schönes Hamburg... Wer denkt da an Wilhelmsburg? Geografisch liegt dieser Stadtteil mitten im Herzen der Stadt, gerade einmal drei Kilometer vom Rathaus entfernt. Doch nur wenige Hamburger haben ihre Flussinsel - die größte in ganz Europa - emotional wirklich ins Herz geschlossen.
Wilhelmsburg ist einfach anders. Sicherlich ärmer, disparater, »sozial schwächer«. Aber auch bunter, spannender - »multikultureller« sowieso. Das liegt an den Menschen, die in den vergangenen drei Jahrzehnten aus allen Himmelsrichtungen hier gestrandet sind. Sie prägen mit ihren Kulturen die eigenwillige Stadtlandschaft, in der sich Lagerschuppen, Schlote, Kleingärten, Hochhäuser und Einfamilienhäuser, ja sogar Landwirtschaft, auf engstem Raum abwechseln.
Wilhelmsburg ist traditionell ein Ort der Einwanderung, 27 Nationalitäten versammeln sich hier, fast 40 Prozent »Ausländer«. Die Polen waren es, die Ende des 19. Jahrhunderts nach Wilhelmburg kamen, um für die Hamburger Pfeffersäcke die Knochenarbeit im expandierenden Hafen zu erledigen. Viele polnisch klingende Namen im Telefonbuch zeugen von dieser ersten Einwanderungswelle. Heute bilden Türken die mit Abstand stärkste Gruppe unter den Zuwanderern. Döner-Imbisse, türkische Männertreffs, Schlachtereien und Gemüseläden finden sich vor allem im alten Ortskern. »Die Türken sind hier sesshafter als in Altona«, sagt Wahl-Wilhelmsburger Nick Barkow zu seinen Nachbarn am Vogelhüttendeich, einem der ältesten Straßenzüge des Stadtteils. Und je sesshafter, desto biederer. So verhalten sich die »alteingesessenen« Türken - viele Familien leben hier schon in der dritten Generation - oft abwehrend gegenüber neuen Zuwanderern, die beispielsweise aus afrikanischen Ländern kommen. Darunter sind viele Christen aus Nigeria, Senegal oder Ghana, die mit ihren getanzten Gottesdiensten den leeren Kirchen am Reiherstieg neues Leben einhauchen. Multikulturelles Zusammenleben und die damit verbundenen Probleme sind eben auch ein Thema unter den ausländischen Bevölkerungsgruppen.
In Wilhelmsburg beschäftigt man sich täglich mit den Problemen im Zusammenleben von verschiedenen Herkünften, Kulturen und Religionen. »Die Politik verweigert dies fast immer«, sagt Barkow. Das Stadtviertel ist sozialgeografisch und städtebaulich ein kompliziertes Terrain. »Drüben ist hier!« sagt der 74-Jährige, und will daran erinnern, dass die Probleme nicht an den Elbbrücken enden.
Unter Studenten, Künstlern und Szene-Leuten gilt Wilhelmsburg seit längerem als Geheimtipp. Wo sonst noch gibt es billigen Wohnraum? Und wo lässt sich der Traum vom eigenen Atelier besser ausleben, als in verlassenen Gewerbe- und Fabrikgebäuden? Der Charme im früher biederproletarischen Wilhelmsburg kommt nicht gestelzt daher, sondern rau, direkt, ja manchmal sogar herzlich. Allerdings: Die meisten Studenten verlassen Wilhelmsburg wieder, wenn sie ihr Studium beendet haben.
Es sind andere, die bleiben. Wie Kai Abd el Salar, der in der legendären Honigfabrik, einem »Prestige-Kulturprojekt« der siebziger Jahre, hinter der Theke bedient. »Meine Kumpels und ich versuchen, hier was aufzubauen«, erzählt der 27-Jährige von seinem Engagement. Drüben, an der Hamburger Universität, studiert er Germanistik und Islamwissenschaft. Ob der Sohn einer Deutschen und eines Palästinensers langfristig auf der Stadtinsel wohnen bleibt, steht allerdings in den Sternen. Wenn ihn etwas hält, dann sind es die Kontakte zu seinen Freunden; sicherlich nicht die zweifelhafte suburbane Ästhetik zwischen Autobahnen und ehemaliger Giftmülldeponie. Zwar hat Wilhelmsburg eine »Traumlage« vorzuweisen, es liegt im Fluss, doch haben städtebauliche Fehlgriffe wie die menschenabweisende Hochhaussiedlung in Kirchdorf tiefe Wunden in historisch gewachsene Strukturen gerissen. Dabei hat Wilhelmsburg überraschend viel Grün, ja Oasen, zu bieten: unzählige Kleingärten, Gemüsefelder und sogar ein richtiges Naturschutzgebiet.
Der Stadtteil war traditionell ein Arbeiterviertel. Gerade in jenen Straßenzügen von Wilhelmsburg, in denen der genossenschaftliche Wohnungsbau präsent ist, fuhr die SPD in ihren besten Jahren, als Herbert Wehner noch für den Bundestagswahlkreis Harburg kandidierte, Traumergebnisse von 70 Prozent und mehr ein. Davon kann die Hamburger SPD derzeit allenfalls träumen. Vorbei die Ära, als Wilhelmsburg noch rot wählte. Gerade der Arbeiterstadtteil Wilhelmsburg hat bei der letzten Bürgerschaftswahl rechts außen gewählt: Die Partei vom jetzigen Innensenator Ronald Schill erhielt auf Anhieb über 30 Prozent. Fast so viele wie die SPD und mehr als in jedem anderen Bezirk. »Die Sozialdemokraten brauchten mal einen festen Tritt in den Hintern«, sagt Raimund Samson, »die haben jahrelang Angst vor unangenehmen Wahrheiten gehabt und stattdessen das politisch Korrekte institutionalisiert.« Der Puppenspieler, Literat und Sozialarbeiter lebt seit 16 Jahren auf der Insel. Er war Jugendsozialarbeiter im Ortsteil Kirchdorf Süd, einer Hochhaussiedlung ohne Räume für Jugendliche. Diese Architektur provoziere seelische Armut, weiß Samson. Darunter leiden Kinder und Jugendliche am meisten.
Wohin treibt also die Elbinsel Wilhelmsburg? Es gebe nicht »so etwas wie eine spezielle Lösung für Wilhelmsburg«, sagt Margret Marker, die seit Jahren in der Honigfabrik Bildungs- und Kulturarbeit leistet. Viele Probleme kommen von außen, just in Zeiten globaler Migration. So schaffen im Vergleich zu anderen Stadtteilen überproportional viele Kinder von Migranten in Wilhelmsburg keinen Schulabschluss. Dabei wird dieses sozial- und bildungspolitische Desaster auch nicht behoben, indem dort so aufregende Großprojekte wie die geplante Internationale Gartenschau (IGA) im Jahre 2013 oder die ehrgeizige Bewerbung für die Olympiade 2012 von oben hineingeplant werden. Denn obwohl die IGA als auch Olympia städtebaulich sicherlich verlockende Chancen in sich bergen, bringen sie für die Menschen auf der Insel im Herzen Hamburgs persönlich erst einmal wenig. Dem schwarz-grauen Schill-Senat sei dies hinter die Ohren geschrieben. »Drüben ist eben hier!«
Olympiade 2012 auf Hamburger Elbinseln
Am 12. April fällt die Entscheidung, ob Hamburg als deutscher Kandidat für die Olympischen Sommerspiele 2012 ins Rennen geht. Wenn es so käme, würde die Vision einer Olympiade im »Herzen der Stadt« näher rücken. Das Zentrum der olympischen Sportstätten soll in einer neuen »Hafencity« westlich der Elbbrücken liegen. Dort wähnt Hamburgs Oberbaudirektor Jörn Walter »den interessantesten Entwicklungsraum für die Stadt«. Die Olympiade 2012 müsste wesentlich ökologischer und nachhaltiger sein als die in Sydney 2000, um überhaupt auf internationaler Ebene eine Chance auf den Zuschlag zu haben, meint Andreas Koeppen, Leiter der Projektgruppe Olympia. Die Diskussionen über die bestmögliche Entwicklungsstrategie heben die vergessenen Elbinseln Wilhelmsburg, Kleiner Grasbrook und Veddel wieder ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit. Matthias Lintl vom Verein »Zukunft Elbinsel Wilhelmsburg e. V.« hofft auf einen intensiveren Dialog mit den Einwohnern als bisher.
Verstärkt wird die neue Aufmerksamkeit durch die Internationale Gartenbauausstellung (IGA) im Jahre 2013, die höchstwahrscheinlich in Wilhelmsburg stattfinden wird. »Gewerbe und Grün«, umschreibt Martina Oldengott von der Umweltbehörde das IGA-Leitbild, das mit »sanfter Entwicklung auch beschäftigungspolitische Impulse vor Ort geben will«. Dabei sollen sich Olympia und IGA auch berühren: Auf Flächen eines ehemaligen Industriebahnhofes plant man eine Halle, wo zuerst fahrradfahrende Olympioniken ihre Runden drehen, und ein Jahr später Gartenbauer aus aller Welt ihre botanischen Künste präsentieren sollen.
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