Mit »Jute statt Plastik« ist die Post-68er-Generation groß geworden - einer der populärsten Slogans der späten Siebziger. Der alternative Dritte-Welt-Handel konnte in den Hochzeiten jährlich weit über 100.000 Jutetaschen absetzen. Die Kampagne war damals so durchschlagend, weil sie mit einem Streich zwei heißdiskutierte Politikfelder miteinander verband: Ökologie und Dritte Welt. Die Plastiktüte war vor zwei Dekaden der Inbegriff der Wegwerfgesellschaft: »Einmalnutzung« und ab in den Müll. Daran hat sich 20 Jahre später nicht viel geändert. Außer der Tatsache, daß sie jetzt biolo gisch abbaubar ist. Derweil ist der einstige Erfolgsslogan fast in Verges senheit geraten. Zu Unrecht, könnte man sagen. Denn Jute kehrt allmählich zurück. Allerdings in anderer Gestalt: als Rohstoff für Linoleum, Dämmstoffe und Autoformteile.
Birlapur, 20 Kilometer südlich der westbengalischen Metropole Calcutta. Die weitläufige Juteproduktionsanlage des indischen Mischkonzerns Birla gleicht einer kleinen Stadt. Über 5.000 Men schen arbeiten an diesem traditionsreichen Ort, wo 1919 die erste von den Briten unabhängige indische Juteverarbeitung begann. Seitdem wird hier Rohjute zu Gewebe und Garn verarbeitet. In den letzten Jahren sind neue Produktionsschienen hinzugekommen: Linoleum, Dämmstoffe und Autoformteile.
»Wir denken in Ton nen. Alle Jutetaschen, die in Europa im letzten Vierteljahrhundert verkauft wurden, könnten wir in wenigen Tagen produzieren. Das ist also nicht unsere Sache«, winkt V. S. Sharma allergisch ab, wenn er »Jute statt Plastik« hört. Bei einer maximalen Tagesproduktion von 120 Tonnen nicht verwunderlich. Der Vizechef von Birlapur ist nicht gut zu sprechen auf die symbol trächtige Kampagne, die von entwicklungspoltisch Bewegten zwi schen Alpen und Nordsee vor mehr als 20 Jahren losgetreten wurde. »Wir von der Juteindustrie haben davon nie profitiert.«
Ein Heidenlärm erfüllt die große zentrale Werkshalle von Birlapur, wo 2.000 Menschen schuften, um die Rohjute in feines Gewebe zu verwandeln. Brechen, Kardieren, Spinnen und Weben: erst dann entsteht das fertige Sackgewebe. Ein arbeitsintensives Verfahren, das zu europäischen Lohnsätzen vollkommen undenkbar ist. Auch wenn die Löhne niedrig sind, machen sie rund 30 Prozent der Gesamtkosten aus, beim Plastik liegt dieser Satz nur bei sieben Prozent.
Schwaches Licht erfüllt die riesige Arbeitsstätte. Hunderte Maschinen drehen sich, es rasselt, rattert, scheuert und quietscht metallisch. Die Jutefaser fließt ununterbrochen. Staub rieselt überall. Hände ziehen, heben, fädeln. Wieselflink. In jedem Winkel bewegt und zuckt etwas. Viele Män ner sind barfuß, arbeiten in dünnen, weißen Unterhemden und kurzen Hosen. Dennoch, bei stickiger Luft und 30 Grad Hitze schwitzen sie. Mensch und Maschine in einem schier endlosen Produktionsprozeß. Roh, un erbittlich, aber auch voller Kraft. Der Mythos des Industriezeitalters weht lebendig durch die Halle.
Wenngleich der Jutesack in den Häfen der westlichen Welt nicht mehr oft anzutreffen ist, so ist er doch in Südamerika, Afrika und in weiten Teilen Asiens immer noch Massenverpackung Nummer eins; obwohl auch hier die Tendenz nach wie vor rückläufig ist. Neben den höheren Preisen schlägt auch das im Gegensatz zu Plastik höhere Gewicht der Juteverpackungen negativ zu Buche. Deshalb sind die Juteproduzenten in Bengalen auf der Suche nach neuen Märkten, wo eventuell höhere Wertschöpfungen zu erwarten sind. Langsam gewinnen sie an Bedeutung: Hochwerti ge Teppiche und Matten beispielsweise, gefärbt in modischen Farben. »Der Preis ist für europäische Verhältnisse sehr günstig«, rechnet Abhay Neva lia von der Birlapur-Produktplanung vor: »Zehn Quadrat meter Juteteppich verkaufen wir für 150 DM.«
Im Design-Center von Birlapur wird heiß über die etwaigen Vorlieben potentieller europäischer Konsumenten diskutiert. Weiß man doch inzwischen, daß die Vermarktung nur über den Kunden führt. 25 Farben und Designs haben die Westbengalen bereits in ih rer Produktpalette. In der Exportabteilung, wo man verschiedene Garn stärken und die Teppiche fertigt, wird peinlich auf Sau berkeit geachtet. Luftbefeuchter sprühen über permanent drehende Ventilatoren Wasser in den Raum, Saugmaschinen entziehen der Luft die infolge des Produktionsprozesses umherschwebenden Fasern.
In einem anderen Teil des Werkes wird aus unversponnener Jute ein Vlies hergestellt, der als Dämm-Material für die Bauwirtschaft Verwen dung findet. Dieser Produktionszweig ist erst seit zwei Jahren in Betrieb. Großes hat Birla auch mit ihrer Linoleum-Abteilung vor. Seit kurzem besteht ein Joint-venture mit den Deutschen Linoleum Werken (DLW) in Delmenhorst. »Mit neuem Stil, mit neuen Farben und mit einem neuen Image wollen wir den Markt aufrollen«, ist sich Generalmanager S. K. Kain sicher. Was viele nicht wissen: Lino leum ist ein Mix aus mehreren nachwachsenden Rohstoffen: Leinöl, Jute, Holz und Kork sind die Hauptbestandteile. Dabei hat Kain nicht nur den überseeischen Markt im Auge, sondern auch den einheimischen, der expandiert.
Die vielleicht spannendste Abteilung ist die »Auto Trim Division«, die erst seit 1995 existiert. Hier werden Autoformteile aus Jutefaser gefertigt. Ab teilungschef Shymal Goswami, der in Aachen Maschinenbau stu dierte, druckst in perfektem Deutsch: »Ich darf nicht zuviel verraten, wir sind mitten in der Entwicklung eines neuen Verfahrens.« Foto grafieren strikt verboten. Schon heute entstehen in Birlapur täglich 1.000 Türverkleidungen. Sie bestehen derzeit aus je einem Drittel Harz, PVC und Jute. Das Problem der Geruchsbildung ha ben die Inder einfach gelöst: Sie lagern die Formpreßteile für einige Tage in einen Extraraum, wo sie ausdünsten. Beim zukunftsträchtigen »One-step-processing« wird Epoxid mit Acryl und Jute in einem Arbeits gang verschmolzen: eine Weltneuheit, deren Details Goswami nicht verraten mag. Seine Abteilung gewinnt an Bedeutung. »Schon bald verarbeiten wir mehr als eine Tonne Jute täglich«, sagt Goswami. Die Perspektiven scheinen rosig zu sein: Mit dem indischen Kleinwagenhersteller Maruti, mit Ford Escort und Opel Astra (beides indische Lizenzproduktionen) gibt es bereits starke Vertragspartner. Auch die größte indische Autofirma Tata plant mit ihrem Modell Telcus Safari demnächst den Einstieg in die Form preßteile.
»Wir können eben nicht einzig überleben mit Jutesäcken«, sagt Konzernchef S. K. Gosh im Birla-Hauptquartier in Calcutta. Um so wichtiger ist das Autogeschäft: »Das ist ein großer Zukunftsmarkt, allerdings dauert das noch eine Weile.« Die Kritik an der nicht immer makellosen Ökobilanz mancher Juteprodukte weist Gosh gelassen zurück: »Die ökologische Frage ist eine sehr wichtige, aber man sollte nicht in Paranoia fallen«, warnt er an die Adresse der Europäer. »Insbesondere die Deut schen übertreiben...«, fügt er hinzu und tippt sich dabei vielsagend an die Stirn.
Auf beiden Seiten des Ganges, in Indien wie auch in Bangladesh, wird derzeit kräftig die Marketingtrommel gerührt. Hierzu fand im Oktober 1998 in New Delhi die bisher größte Jute-Konferenz statt: Messen, Seminare und Diskussionsforen zeigten neue Perspekti ven für den Klassiker unter den nachwachsenden Rohstoffen auf. G. K. Ray Chaudheri, Chefver markter der Jute Manfacturing Development Council (JMDC) in Calcutta sieht nach einer längerer Schrumpfungsphase gute Aussichten: »Zwar gehen die Mengen noch weiter zurück, doch wächst der Jutemarkt von den Werten her. Neue Märkte tun sich auf, insbesondere in den USA, Europa und Japan.« Allerdings sei die Konkurrenz aus China, wo die Faserpflanze Kenaf im großen Stil angebaut wird, nicht zu unterschätzen, so Chaudheri.
Ohne Zweifel, die Jute wird auch wieder nach Europa kommen, ob gleich in neuen Produkten. »Vorausgesetzt, die Produktivität steigt in unserem Land«, sagt A. B. M. Abdullah, Direktor vom Bangladesh Jute Research Insti tute, »dann können wir auch zu besseren Preisen produzieren.« Großes Augenmerk richten die Wissenschaftler auf die Gentechnologie. Ei nes Tages sollen in die Jute transferierte Gene schon auf dem Feld blaue, gelbe und orangene Fasern liefern. Ob das aber im Sinne der Jute-Bauern ist, bleibt zu bezweifeln. Doch sind den Phantasien keine Grenzen gesetzt, wenn auch sicherlich nie wieder mit der Maxime »statt Plastik«.
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