Marcos will aus dem Schatten treten

MEXIKO Die Angebote von Präsident Vicente Fox sind für die Zapatisten eine Chance, aus der politischen Defensive zu kommen

Kurz nach der Amtsübernahme des neuen Staatschefs, in den Tagen des hektischen Hin- und Hersendens von Botschaften zwischen dem Zapatistischen Heer (EZLN) und der neuen Regierung, bemerkte ein Journalist in Mexiko-Stadt, in vier Tagen sei bereits mehr passiert als in den vergangenen vier Jahren. Das galt besonders der Bewegung im Chiapas-Konflikt - ausgelöst durch eine Gesetzesvorlage im Sinne des Abkommens von San Andrés (*), den beginnenden Rückzug der Militärs aus einigen "zapatistischen Zonen" und die Ernennung von Luis H. Alvarez zum Chiapas-Beauftragten der Regierung. Zugleich kehrte die indígene Stimme in Gestalt der zahlreich veröffentlichten Kommuniqués und Analysen von Subcomandante Marcos zurück, der ankündigte, mit anderen zapatistischen Führern im Februar in die Hauptstadt zu kommen und im Kongress den Gesetzentwurf für "kulturelle und rechtliche Autonomie" der Indígenas direkt zu begründen. Die ebenfalls verfügte Aufhebung von Restriktionen für Entwicklungshelfer und Menschenrechtsbeobachter in Chiapas, die Rückgabe eines unter Präsident Zedillo zugunsten der Militärs enteigneten Landes an den neuen Gouverneur der Provinz sowie die vor Neujahr erfolgte Freilassung von 17 zapatistischen Gefangenen komplettierten die auf Aussöhnung gerichteten Gesten der Regierung.

Stets war Chiapas für die mexikanische Innenpolitik nicht nur ein scharf polarisierendes Thema, sondern auch ein Faktor, der die "zivilgesellschaftliche Mobilisierung" und damit die in den vergangenen Jahren erkennbare Demokratisierung erheblich beeinflusst hatte. Die sozialen und Menschenrechtsbewegungen, die Debatte in den Parteien, die Wendung zu Kritik und mehr Offenheit seitens vieler Medien wurden durch den Konflikt mit den Zapatisten erheblich beeinflusst. Dennoch, als im November 1996, die PRI-Regierung den von einer pluralistisch besetzten Parlamentskommission (COCOPA) ausgehandelten Kompromiss für eine kulturelle und rechtliche Autonomie gegenüber den Indígenas verwarf und damit den Dialog mit der EZLN abbrach, konnte die zweigleisige Politik von Präsident Zedillo durchaus Erfolge verbuchen. Seither wurde die militärische Einkreisung verschärft, die Aktivität der von der Regierung tolerierten Paramilitärs intensiviert und der Spielraum für Entwicklungshelfer und Menschenrechtsbeobachter in Chiapas merklich beschränkt.

Übergriffe - vor allem das Massaker in Acteal kurz vor Weihnachten 1997, bei dem über 40 Frauen und Kinder kaltblütig getötet wurden - brachten die Krisenregion zeitweise wieder in die Schlagzeilen. Doch sowohl für die nationale Politik wie die internationale Solidaritätsbewegung hatten die Zapatisten an Attraktionskraft verloren. Ohne hier im Einzelnen auf die Ursachen dieses Phänomens eingehen zu können, ist zu vermuten, dass die regionalistische und indigenistische Orientierung es nicht vermochte, in ausreichendem Maße eine nationale Perspektive zu entwickeln und andere drängende Probleme des Landes "zu besetzen". Die Zurückhaltung gegenüber allen Formen traditioneller Politik und die Aufforderung zur Praxis eines neuen Politikbegriffs (der auf Kommunikation und herrschaftsfreie Diskussion hinauslief) stieß mit der Zeit immer mehr ins Leere, zumal eine gewisse demokratische Läuterung der mexikanischen Politik inzwischen eingetreten war.

In den jüngsten Erklärungen von Marcos wird nun neben den "alten" chiapanekischen und indígenen Themen auch der Widerspruch zwischen den (populistischen) Verheißungen des neuen Präsidenten einerseits und der Beibehaltung der neoliberalen Linie andererseits - Fox führt ein "Unternehmer-Kabinett" - zum Anlass der politischen Intervention. Ob dies ausreicht, "den Zapatismus" wieder zum Kristallisationspunkt der mexikanischen Linken zu machen, kann bezweifelt werden. Feststehen dürfte aber, dass die Chiapas-Frage zum ersten und wichtigsten Testfall für die Regierung Fox und den neuen Gouverneur von Chiapas wird, da sich hier gravierende Probleme Mexikos bündeln: die Menschenrechtsverletzungen, die Exklusion indígener Bevölkerungsteile, die Verarmung bedeutender Segmente der Bevölkerung sowie die Vernachlässigung bestimmter Regionen. Gleichzeitig werden damit wesentliche Wahlversprechen von Fox berührt.

Vor allzu großer Euphorie hinsichtlich einer schnellen "Lösung" des Chiapas-Problems ist jedenfalls zu warnen. Die Widersacher eines akzeptablen Arrangements mit den Zapatisten sind nicht leicht zurückzudrängen: die Gegner einer Gesetzesinitiative im Sinne des Abkommens von San Andrés sind sowohl in der Regierungspartei PAN wie auch in der Oppositionspartei PRI relativ stark. Das Militär, das sich seit 1994 in der Region festgesetzt und mittlerweile auch eigene Interessen bezüglich der Kontrolle des Drogen- und Waffenhandels sowie der Migration von Prostituierten aus Zentral- und Südamerika entwickelt hat, wird nicht ohne Widerstreben vollständig aus den Konfliktzonen abziehen wollen. Vor allem aber stehen die paramilitärischen Verbände, die lokalen und regionalen PRI-Kaziken, die Großgrundbesitzer in Chiapas zur Obstruktion bereit.

Siehe auch

(*) Das Abkommen sah eine Selbstverwaltung für die indianischen Gebiete in Chiapas und kulturelle Autonomie vor.

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