Das Schicksal des Berliner Schlossplatzes soll in diesem Jahr endgültig entschieden werden. Mitte September tagt noch einmal die sogenannte Svoboda-Kommission »Historische Mitte«, die seit einiger Zeit Anhörungen zu dem Problem veranstaltet hat und sich offenbar für die historisierende Rekonstruktion des alten Stadtschlosses der Hohenzollern aussprechen will. Der Frankfurter Völkerwissenschaftler und Kultursoziologe Dieter Kramer macht hier einen Vorschlag zur künftigen Nutzung des Schlossbaus und des Schlossplatzes als internationales Kulturforum. Damit entwickelt er Ideen des Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Klaus-Dieter Lehmann, fort, der die Dahlemer ethnologischen Sammlungen auf dem Gelände präsentieren will.
Ansprüche und Ausschlüsse
Das bauliche und konzeptionelle Programm des zukünftigen Ensembles Schlossplatz/ Mitte Spreeinsel/Historische Mitte soll eine funktionale und stadträumliche Neuaneignung des Areals in der Bipolarität zwischen Brandenburger Tor und Alexanderplatz darstellen: Von beiden Seiten her soll die neue Mitte als kulturell-kommunikativer Ort der Gesellschaft erfahren werden können. Das Ensemble soll etwas vermitteln von den Prämissen und Instrumentarien, mit denen in Deutschland »Weltsichten» für seine aktuelle (neue) Situation entwickelt werden und wie für dieses Land einen Platz in Europa und der Welt zu definieren möglich ist. Zur gleichen Zeit soll ein attraktiver Platz für die Berliner, für Menschen aus sämtlichen Bundesländern und für Touristen aus aller Welt entstehen.
Auch wenn über die Art der Bebauung mit einer solchen Idee noch keine Vorentscheidung getroffen wird, so werden doch einige Vorstellungen von dem, was bisher für den Schlossplatz diskutiert wurde, obsolet: Der Schlossplatz wird nicht zu einem Ort der Beschwörung preußischer Tugenden mit einem zu diesem Ziel rekonstruierten Schloss, auch keine neue nationale symbolische Mitte oder ein Platz für ein Nationaldenkmal. Auf ihm wird weder ein pathetisches Gedenkprogramm für Republik und Demokratie abgefeiert, noch ein nur schwer dauerhaft mit Leben zu füllendes Bürgerforum etabliert.
Noch weniger darf er ein dem touristischen Opportunismus geopferter Rastplatz für Omnibusrundfahrten im neuen Berlin sein. Der Platz wird auch nicht zu einem der Öffentlichkeit weitgehend vorenthaltenen Ort mit Kongresszentrum und Hotel. Es soll auch nicht einfach ein europäisches Haus entstehen, statt dessen wird sich der Platz bewusst der Perspektive der Einen Welt zu öffnen haben.
Die Idee des Wissensforums, auch erörtert im Rahmen der bisherigen Diskussion, erinnert an das Kulturhuset in Stockholm. An prominenter Stelle im Zentrum der Stadt entfaltet dieses Haus seit den 70er Jahren ein stark auf Information und Wissen ausgerichtetes Programm mit Bibliothek, Informationszentrum, Ausstellungs- und Veranstaltungsstätten. Es war Vorbild für das einst in Frankfurt am Main geplante Audiovisuelle Kommunikationszentrum zwischen Dom und Römer. Aber in der heutigen Landschaft der Ideen und Empfindungen ist eine solche »Kopfstation« allzu deutlich verbunden mit einem evolutionistischen Fortschrittsoptimismus früherer Jahrzehnte, der von der Verbreitung des Wissens die Lösung aller Probleme erwartet.
Angesichts der miteinander in konfliktreicher Gegensätzlichkeit sich artikulierenden Berliner Projekte schlug Paul Ingenhoven, Architekt und Stadtplaner, ein Moratorium vor: Erst einmal soll der Platz als offener Park genutzt werden (Freitag, 13/01). Die Bauwut des neuen Berlin kann sich angesichts der extremen Finanzknappheit vielleicht damit anfreunden; die Diskussion über die zukünftige Nutzung wird jedoch deswegen nicht überflüssig. Der Architekturkritiker Manfred Sack möchte einen »kulturell geprägten, quirligen, bürgerlichen und in diesem Sinne auch repräsentativen Ort«. Wie der Berliner Stadtplaner Thomas Flierl setzt er zu Recht mehr auf die offene, für die Bürger zugängliche Sphäre statt auf ein Veranstaltungszentrum mit dekorativer historischer Kulisse oder ein der Öffentlichkeit verschlossenes Gebäude mit Pathos-Gebärde.
»Außereuropäisches« im Zentrum
Wenn das Programm eines »offenen Hauses« nicht opportunistisch auf ein »europäisches« Haus beschränkt sein soll, sondern eher in der Perspektive der »Einen Welt« zu sehen ist, dann wird mit dieser Formulierung bewusst die Beschwörung von »Globalisierung« vermieden. Ein solches Projekt ist anschlussfähig an eine Idee von Klaus-Dieter Lehmann, dem Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Er schlägt, zuerst im Mai 2000, dann in einem dem Senat vorgelegten Konzept vom 10. Oktober 2000 (aus dem hier zitiert wird) vor, die Berliner ethnologischen Sammlungen in den Gebäuden des Schlossplatzes unterzubringen. Bewusst lässt er dabei offen, ob es ein nachgebautes Schloss sein soll.
Lehmann möchte am Schlossplatz die Schätze des Dahlemer Museum für Völkerkunde und die beiden asiatischen Kunstsammlungen unter einem Dach vereint sehen, bestehend aus drei Komponenten: Einem Kulturkundlichen Archiv (mit Studiensammlungen als Fundus für Ausstellungspräsentationen), einem Museum der Weltkulturen, und einem Museum der Weltkunst, dazu noch ein Musikauditorium und weitere profilierte Institutionen.
Zeitgebundene Museumskonzepte
Eine neue Zeit braucht neue Museen. In ihrer Entstehungszeit wirkten alle großen Museumskonzeptionen nicht verstaubt »museal«, sondern sie waren Bedeutung tragende und Sinn schaffende Institutionen kultureller Öffentlichkeit. In verschiedenen Reichsteilen Österreich-Ungarns zum Beispiel wurde vielfach lange vor der Unabhängigkeit der prominenteste Platz der jeweiligen Hauptstadt mit einem Nationalmuseum ausgestattet, das gleichsam als eine Art nationales säkulares Heiligtum gedacht war. Das dezentral gelegene deutsche Germanische Nationalmuseum in Nürnberg spiegelt nicht nur den verspäteten Versuch der Erfüllung dieses Programms in Deutschland, sondern ist auch angemessener Ausdruck des zunächst föderalistisch-dezentral organisierten deutschen Nationalstaats; das von Helmut Kohl geplante »Haus der Deutschen Geschichte« war ein in jeglicher Hinsicht zu spät kommendes Replikat.
Es ist heute müßig, über die repräsentativ-nationalstaatlichen Museumsprogramme kulturkritisch zu räsonnieren oder zu spotten. Die meisten, die das heute tun, hätten im 19. Jahrhundert als Intellektuelle fröhlich mitgestrickt am Mythos der Nation, weil sie es für selbstverständlich gehalten hätten, dass eine Kulturnation sich auch staatlich konstituiert.
Heute ist eine andere Perspektive angesagt, und Lehmanns Idee knüpft nicht an die museale Repräsentation des Nationalstaates an, sondern an die Vorstellungen der preußischen Reformära der nachnapoleonischen Zeit, wenn er den Plan von Wilhelm von Humboldt und Ledebur für die preußischen Museen zitiert. Auch das ganzheitliche Konzept des Klassizismus sollte wie das der Nationalmuseen sinnstiftend sein, freilich mit anderen Akzenten: »... den Geist und die Geschichte aller Völker und Zeiten ... durch Werke der Kunst und durch geschichtliche Merkwürdigkeiten wohlgeordnet vor Augen und zur klaren Einsicht zu bringen«, war Ledeburs Formulierung von 1831. Aber der holistische Ansatz, der »universale Charakter« und die »aufregende Mannigfaltigkeit« der Sammlungen werden in Lehmanns Plan nur scheinbar beibehalten. Durch die Kombination mit der benachbarten Museumsinsel wird das Konzept zurückgeschnitten auf ein eurozentrisches Programm: In einer »beispiellosen Dichotomie« werden den »kulturellen und künstlerischen Leistungen des Abendlandes diejenigen des - viel weiter ausgreifenden - Restes der Welt entgegensetzt«: Die Sammlungen auf der Museumsinsel werden als Ausdruck abendländischer kultureller Identität verstanden (womit z. B. deren ägyptische und islamische Bestandteile einfach für Europa vereinnahmt werden), und im unmittelbaren Gegenüber stehen die außereuropäischen Sammlungen am Schlossplatz und weitere Institutionen, die »inhaltlich überwiegend oder ausschließlich außereuropäisch definiert sind«. Vorsorglich wird das Ganze deklamatorisch »als jede Eurozentrik zurückweisende Würdigung des Fremdkulturellen« etikettiert. Aber schon die Aufteilung bestätigt den Eurozentrismus: Die Welt zeigt sich nicht als vernetzte Eine Welt, sondern säuberlich geschieden. Das ist heute so nicht mehr tolerabel.
Es wird noch deutlicher separiert: Die »Zeugnisse außereuropäischer Kunst und Kultur« werden als »Ausdruck ganz anderer, uns zutiefst fremd und zugleich befremdlich erscheinender, gelegentlich wohl auch beängstigender Möglichkeiten menschlicher Daseinsgestaltung« gewertet: Die Kluft zum anderen scheint unüberbrückbar, das Fremde in uns selbst zu erleben besteht keine Chance mehr. Nebenbei: was ist wohl beängstigender als die Folter-Werkzeuge der europäischen Inquisition oder die Strukturen des gewalttätigen Terrors und des industriellen Völkermordes der Nationalsozialisten, was auch befremdlicher als die Exzesse der Vernichtungsgewalt atomarer Waffen oder die kalte Barbarei verselbständigter »entbetteter« ökonomischer Sachzwänge?
Der Museumskomplex soll »hinreichendes Wissen über die jeweilige Bedingtheit der eigenen und fremdkultureller Daseinsgestaltung« vermitteln - diese also durch den Hinweis auf ihre Determinanten eher bestätigen und nicht als »kontingente« Spezifikationen der im Prinzip auch anders gestaltbaren menschlichen Daseinsmöglichkeiten kenntlich zu machen. Nichts weist hier mehr hin auf die aktuelle gemeinsame Erfahrung, aus der heraus zum Beispiel die Einsicht entstehen könnte, dass die Wohlstandsmodelle der Marktgesellschaften nicht die einzigen Möglichkeiten des Lebens in eigener Würde darstellen, und dass angesichts globaler Umweltprobleme eine »Strukturanpassung« der Lebensweise des Nordens ansteht. Gesprochen wird nur klischeehaft von einer »Brücke zwischen den Kulturen der Welt«, die »ein Ort, an dem das uns Menschen Trennende und Einende erfahrbar und verstehbar« sein soll: Wie soll das sich realisieren, wenn Trennung affirmiert, Gemeinsames nicht auf derjenigen der aktuellen globalen Probleme, sondern höchstens auf einer abstrakt-allgemeinmenschlichen Ebene artikuliert wird?
In der Gegenüberstellung von Museumsinsel als Ausdruck abendländischer kultureller Identität und außereuropäischen Sammlungen am Schlossplatz wird eine fragwürdige Dichotomisierung vorgenommen, statt auf die ständigen Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Kulturen und Teilwelten zu verweisen.
Schatzkammer oder Erfahrungsraum?
Lehmanns Konzept, grundsätzlich als mutig und vorwärtsweisend zu begrüßen, nimmt die gegebenen Chancen nicht wahr. Die Aufspaltung in ein Museum der Weltkulturen und ein Museum der Weltkunst als der eigentlichen »Schatzkammer« der qualitätvollsten Kunstwerke der außereuropäischen Sammlungen und als »Ausdruck von Höchstleistungen künstlerischen Schöpfungsvermögens in der Geschichte der Menschheit« setzt den genießenden und selektiven Konsum der Kunst außereuropäischer Regionen fort. Es kann dabei auf den »Louvre-Effekt« hoffen: Wie im Louvre platzierte außereuropäische Kunst und wie das in Paris von Jean Nouvel geplante »Musée des arts premiers« werden die Kunstwerke als »gleichrangige Elemente der Weltsprache der Kunst« (Henning Ritter) isoliert präsentiert und dem reinen ästhetischen Genuss ausgesetzt.
Es scheint dies ein verblassender Trend zu sein, denn inzwischen zieht man auch in Paris den neutralen Namen des »Musée des quai Branly« vor. Auf jeden Fall ist es in keiner Hinsicht ein zukunftsweisendes Programm: Von ihrer Lebenswelt geschmäcklerisch getrennte Kunst ist nicht mehr als Genuss für Kenner oder rücksichtsloser Konsum von Welt durch eine hegemoniale Kultur. Und umgekehrt ist das Leben in eigener Würde bei anderen Kulturen nicht nachvollziehbar ohne die ästhetischen Komponenten dieser Lebensformen: Erst in dieser Verbindung - die auch bei den gebildeten Kennern im Geiste immer hergestellt wurde - kann Kunst vielleicht auch zur Erfahrung von »Weisheit« und zum Erlebnis der Vielfalt menschlicher Lebensmöglichkeiten, ja auch zu einer Einrede wider säkulare Eschatologien der Gegenwart werden.
Manche befürchten bei einem populären Ethnologischen Museum eine »Jahrmarktsatmosphäre« und möchten deswegen die »Weltkunst« getrennt davon sehen. Aber diese Atmosphäre kommt, siehe Louvre, unweigerlich und am ehesten zustande, wenn eine Ansammlung von Spitzenstücken in einer Schatzkammer Touristen omnibusladungsweise anzieht und zum Abhaken im Wiedererkennungseffekt auffordert.
Ein Ort kultureller Vielfalt
Wie aber sähe eine Gestaltung des Berliner Schlossplatzes aus, die den kulturellen Dimensionen des heutigen Weltgeschehens in der gleichen Weise gerecht wird, wie dies das klassizistische Reformprogramm einst versuchte?
Auf dem Gelände des Schlossplatzes könnte sich mit einer neuen Konzeption ein Bekenntnis zu kultureller Vielfalt und weltweiter Vernetzung in einem komplexen Ensemble von lebendigen, impulsgebenden Veranstaltungs- und Ausstellungsstätten sowie Sammlungen konkretisieren. Das Haus der Kulturen der Welt als Ort für kleine und große Veranstaltungen (populäre internationale Musik eingeschlossen), »arbeitende« Museen mit dem breiten Spektrum der heute üblichen überhaupt nicht museal-verstaubten Praxisformen, vielleicht auch eine »Denkfabrik« oder »Akademie«, sie alle zusammen in entsprechend nutzerfreundlicher Umgebung mit Platz, Parkgrün und Gastronomie könnten einen entsprechend attraktiven kulturellen Ort generieren.
Die heute angesagte Abkehr von Eurozentrismus, Fortschrittspathos, Entwicklungsdenken und vom und Denken in Kategorien nationaler oder kultureller Homogenität bedarf einer Menge von Begriffs-, Symbol- und Diskussionsarbeit, um aus den verschiedensten Ansätze eine neue Sicht der Dinge zu gewinnen. Weltsichten für das Heute und Morgen müssen gefunden und in einem von vielen nachvollziehbaren Prozess ausgearbeitet, umgearbeitet und in die Sprache des Alltags übersetzt werden. Nichts ist dazu besser geeignet als dauerhafte kulturelle Institutionen wie Museen, Veranstaltungsstätten, Kulturzentren, Stiftungen oder Akademien.
Die europäischen Kulturproduzenten und Denker des 19. und 20. Jahrhunderts setzten bewusst und unbewusst erhebliche intellektuelle Energien ein, um in den Begriffen und Symbolen der kulturellen Sphären die europäische Welteroberung und imperialistisch-kolonialistische Durchdringung zu verstehen und zu rechtfertigen. Edward W. Said hat in seinem Buch über den Orientalismus diesen Prozess nachgezeichnet und ihn in seinem späteren Werk Imperialismus und Kultur noch einmal erläutert. Heute ist entsprechend eine Menge neuer Begriffs- und Symbolarbeit notwendig, um das Neue zu begreifen und zukunftsfähig zu beschreiben. Museen können einen bescheidenen Beitrag dazu leisten - nicht zuletzt dank der Faszination, die von der Kraft und Vielfalt der Zeugnisse fremder Kultur ausgeht.
Die Einsicht, dass das Wohlstandsmodell westlicher Industriegesellschaften nicht das Modell für alle sein kann, hat Konsequenzen für die Definition der sozialkulturellen Ziele in Nord und Süd. Andere kulturelle Traditionen belegen, dass es auch anders geht als bei uns. Je mehr wirtschaftliches Wachstum nicht mehr als sich verselbstständigender »Sachzwang« begriffen wird und je intensiver die kulturspezifische Elastizität von Lebensweisen und Bedürfnisstrukturen bewusst und gepflegt wird, desto mehr Spielräume für Zukunft entstehen. Der Bericht der Weltkommission für Kultur und Entwicklung (WCCD, 1995) wertet die Vielfalt der Kulturen als angesichts der »Unwägbarkeiten der Zukunft« unverzichtbare Zukunftsressource, wie der Präsident der Kommission, Javier Pérez de Cuéllar, im Vorwort dieses Berichtes betont. In einem offenen und lebendigen Berliner Schlossbezirk die Ressource Kultur zu pflegen und einen anregenden Ort gelebter Vielfalt zu etablieren, das könnte ein symbolischer Beitrag zur attraktiven Positionierung von Deutschland in der Welt werden.
Dr. Dieter Kramer, geboren 1940 in Rüsselsheim am Main, studierte in Mainz und Marburg und habilitierte sich 1987 an der Universität Wien (Europäische Ethnologie). Er war außerordentlicher Universitätsprofessor der Republik Österreich, derzeit ist er Oberkustos im Museum der Weltkulturen der Stadt Frankfurt am Main. Veröffentlichungen zu Europäischer Ethnologie, Kulturpolitik, Tourismus, Nord-Süd-Beziehungen.
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