Mit Selbstverständlichkeit bedienen wir uns der deutschen Sprache, folgen unseren Gewohnheiten und Sitten. Wenn irgend jemand uns etwas davon verbieten möchte, würden wir mit Zorn und Protest reagieren. Schon wenn jemand einen Hammel auf andere Weise, als uns gewohnt, schlachten will, regt sich Unmut. In all dem nehmen wir das Recht auf die eigene Kultur wahr.
Dieses Recht ist keine Selbstverständlichkeit. Wo sich verschiedene Lebensweisen überlagern, durchdringen oder berühren, kommt es immer wieder zu Versuchen, dieses Recht einzuschränken. Der moderne Nationalstaat vereinheitlicht seit dem 19. Jahrhundert Sprache und Kultur auf seinem Territorium. Minderheiten mit eigenen Lebensformen hat er dabei mehr oder weniger gewaltsam unterdrückt und mit sei
nd mit seinem Erziehungssystem auf ein Standard-Niveau von Sprache, Sitten und oft genug auch Religion eingeschworen.Heute geschieht ähnliches weltweit in zahllosen marktwirtschaftlichen Entwicklungsgesellschaften, so wie es vorher in sozialistischen Erziehungsdiktaturen versucht wurde. Zu den Opfern gehören unter anderem die "indigenen Völker", vormoderne Kulturen auf dem Territorium von modernen Staaten.Am Beispiel des Sudan zeigt der Leipziger Ethnologe Bernhard Streck in seinem Buch Fröhliche Wissenschaft Ethnologie, wie seit den zwanziger Jahren, also schon in Zeiten der britischen Kolonialverwaltung, jene Stämme und Kulturen der sudanesischen Nuba-Berge, die keiner der großen Religionen Christentum oder Islam angehörten, "zur Monotheisierung freigegeben werden": Christen und Muslime missionierten sie mit Gewalt. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, im selbständigen Staat Sudan, weinen weder sozialistische noch muslimische Reformer der Kultur der Stammesvölker eine Träne nach, auch deswegen, weil ihre den Zyklen der Jahreszeiten folgenden Lebensformen für die Moderne eine Verschwendung von Zeit, Arbeitskraft und Gütern bedeuten.Modernisierungsstrategien, die Fortschritt und Wachstum als nicht in Zweifel gezogene Ziele setzen, verbannen jene Kulturen und Lebensweisen, die dem nicht folgen wollen, als "geschichtslose Völker" auf den "Müllhaufen der Geschichte". Den Muslimen empfiehlt der Prophet Mohammed zwar, gegenüber den anderen großen Offenbarungsreligionen, den Christen und Juden, Toleranz zu üben, nicht aber dem "Heidentum" gegenüber. Für die Muslime leben die Heiden in der Finsternis (jahiliya), die Christen zitieren den Brief an die Epheser 4, 17: "Die Heiden gehen im Kreise" - was in ihrer zyklischen, von Saat und Ernte im Jahreslauf geprägten Lebensweise ja tatsächlich gesagt werden kann (Luther übersetzt: "... wie die anderen Heiden wandeln in der Eitelkeit ihres Sinnes").Unter dem Vorwand, die ihnen zugeschriebenen "grausamen Urvätersitten" auszurotten, werden die indigenen Völker vielfach zwangsweise in die Moderne einbezogen - immer wieder im Rahmen von blutigen Bürgerkriegen oder repressiver Verwaltung. Auch das faschistische Italien rechtfertigte seine Eroberung Äthiopiens mit dem Wunsch nach Abschaffung der letzten Bastion der Sklaverei.Ähnliches wie im Sudan wiederholt sich heute in China, wo für Jiang Zemin die von Minderheiten bewohnten Gebiete "noch zurückgeblieben" sind und wo die beschleunigte Reform und Öffnung und die wirtschaftliche Entwicklung auch sie "voranbringen" soll. Was das heißt, erfährt man aus den Tageszeitungen. Die Regierung definiert Wohlfahrt und Glück, und nicht nur die Tibeter haben sich dem zu fügen.Kulturelle Vielfalt als RessourceGegenwärtig werden auch andere Perspektiven als die der Zwangsmodernisierung vorstellbar. Eine einheitliche Weltkultur scheint trotz Globalisierung nicht in Sicht; Globalisierung und Regionalisierung durchdringen sich vielmehr wechselseitig, und auch transnationale Unternehmen bedürfen der sicheren lokalen (regionalen) Märkte. Beobachtbar ist eine Aufwertung der Vielfalt der Kulturen, und damit erhält das Recht auf die eigene Kultur eine neue Chance.Die Ethnologen beobachteten schon seit etlichen Jahrzehnten verwundert das "ethnische Paradoxon": Während auf der einen Seite moderne Lebensweisen und Produkte sich weltweit verbreiteten, wuchs auf der anderen Seite das Interesse am Erhalt der eigenen Kultur und an der eigenen Ethnizität, und zwar sowohl als kulturelle Selbstbehauptung in marginalisierten armen Gesellschaften wie als Bestandteil von Lebensqualität in prosperierenden Regionen, denken wir nur an die Revitalisierung von Mundarten oder an regionalistische Bewegungen in Deutschland. Weil das Programm von Entwicklung und Modernisierung angesichts der erkennbar gewordenen "Grenzen des Wachstums" in Zweifel gezogen wird, wächst das Interesse an der Vielfalt der Kulturen.So wird inzwischen kulturelle Vielfalt "angesichts der Unwägbarkeiten der Zukunft" (so der ehemalige Generalsekretär der UNO, Pérez de Cuéllar, im Bericht der Weltkommission für Kultur und Entwicklung) als unverzichtbare Ressource gewertet. Sie ist nicht mehr nur pittoresker Bestandteil der Alltagswelt der prosperierenden Welten.Zunächst wird des ökonomischen Nutzens wegen manchen Kulturen zugebilligt, ihren Sonderstatus als "biologisch-kulturelle Einheit" aufrechtzuerhalten, etwa den Indianern der Regenwälder, aus deren Lebenskultur mancher Nutzen erhofft wird. Sogar ihre Sprache wird wichtig: Der mit Erfahrung gesättigte Sprachgebrauch der lokalen Kenner kann darauf aufmerksam machen, dass nahezu gleich aussehende Pflanzenarten unterschiedliche Eigenschaften besitzen (z. B. medizinisch interessante). Geht die Sprache verloren, dann wird auch diese Unterscheidung vergessen; verliert sich die kulturelle Praxis des Umganges mit den Bestandteilen der Lebenswelt, dann verschwindet eine Menge von wertvollem "lokalem Wissen". Deswegen interessieren sich seit einiger Zeit immer mehr Kräfte, von denen man das eigentlich nicht erwartet hätte, für die Vielfalt der Kulturen als Begleiterscheinung von wirtschaftlich nutzbarer Biodiversität. Darüberhinaus wird die Erfahrung angepasster Kulturen wertvoll in Situationen, in denen Nachhaltigkeit und Dauerhaftigkeit zum Problem geworden sind.Unterschiedliche Lebensformen mit unterschiedlichen materiellen Niveaus erhalten so aus opportunistischen Gründen ein Lebensrecht. Aber die zitierte Formel von Pérez de Cuéllar signalisiert weitergehende Ansprüche: Da niemand die Unwägbarkeiten der Zukunft voraussagen kann, ist auch nicht bestimmbar, welche kulturellen Ausprägungen denn für zukünftige Probleme und Krisen interessante Anregungen zu bieten haben, also werden alle angesichts der als wertvoll erachteten Kreativität und Elastizität wichtig. Und, noch einen Schritt weiter gehend, lässt sich ein allgemeines Recht auf die eigene Kultur als selbstbestimmtes Leben in eigener Würde ableiten und gegen Modernisierungs- und Universalisierungszwänge behaupten.Toleranz für alles?Der Anerkennung des Rechtes auf die eigene Kultur stehen nicht nur die zitierten Zwangsmodernisierungen und der staatliche Homogenisierungszwang im Wege. Es gibt Konflikte zwischen den in der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" der UN von 1948 enthaltenen Regelungen und den konkreten Praktiken vieler Kulturen. Schon wenn es um die soziale Stellung der Frau geht, so stehen in keiner Kultur die Realitäten voll in Einklang mit der geforderten Gleichberechtigung der Geschlechter der Menschenrechtserklärung. In anderen Fällen sind es die Todesstrafe oder die Kinderarbeit, sind es Erziehungspraktiken und Sprachzwänge, die in Konflikt geraten mit konkreten Freiheitsrechten.Beliebte Argumente gegen einen Kulturrelativismus, der alles und jedes toleriert, sind Körperstrafen (außer der Todesstrafe in den USA), das Verprügeln oder willkürliche Verstoßen von Ehefrauen oder die genitale Verstümmelung von Frauen (Mädchenbeschneidung). Wenn es um solche Praktiken geht, oder wenn die Meinungsfreiheit von Dissidenten beeinträchtigt wird, dann scheinen alle Mittel gerechtfertigt, bis hin zur Intervention (Ausnahmen werden nur bei vorrangigen wirtschaftlichen Interessen gemacht). Aber Gewalt verhindert die kulturelle Einbettung der Menschenrechte. Sie werden Bestand nur dann haben können, wenn sie von den Selbstverständlichkeiten einer ganzen Kultur getragen werden.Überzeugend ist freilich auch nicht das Programm des Kulturrelativismus, der sich Ehrenrettung und unterschiedslose Duldung der kulturellen Vielfalt auf die Fahne geschrieben hat. "Toleranz gegenüber inkompatiblen Rationalitäten", wie sie der zitierte Leipziger Ethnologe Bernhard Streck fordert, ist schon angesichts der bewusst gewordenen "gemeinsamen Verantwortung" auf der Ebene der Weltgemeinschaft nicht unendlich ausweitbar. Es wird auch nicht genügen, die anderen einfach zu akzeptieren, wenn sie sich nicht in die gemeinsame Verantwortung für Zukunft und Frieden einbeziehen.Die bloße Akzeptanz scheitert jedoch auch moralisch, weil sie den inneren Widersprüchen und Entwicklungsprozessen von Gesellschaften nicht gerecht wird. Kulturen sind ja nie statische Gebilde, sondern sie wandeln sich permanent durch innere und äußere Antriebe. Wie steht solche Toleranz denen gegenüber, die aus ihrer eigenen Gesellschaft heraus die Abschaffung von Praktiken verlangen, mit denen die Würde der Menschen verletzt wird?Ein Weg, mit diesem Dilemma zurechtzukommen, ist heute der interkulturelle Dialog, der sich auf Wandel durch Annäherung einlässt. Freilich muss dieser Dialog berücksichtigen, dass jede Kultur Anspruch auf universelle Geltung ihrer Prinzipien erhebt.Wenn man, wie der Marburger Politologe Dirk Berg-Schlosser, davon ausgeht, dass es keine letztgültige Begründung für die universelle Geltung von Menschenrechten gibt, dann muss man bescheidener und realistischer vorgehen und nach "Überlappungen" zwischen den Kulturen suchen. Am Beispiel der Mädchenbeschneidung in Afrika erläutert er, wie es erst durch die Veränderung des sozialkulturellen Kontextes möglich wird, davon abzukommen: Erst wenn klar ist, dass Mädchen auch dann Heiratspartner finden, wenn sie nicht diesen brutalen, tief in sozialkulturellen Praktiken und Strategien der kulturellen Selbstbehauptung verankerten Praktiken unterworfen waren, verliert sich die Sitte. Ansonsten werden die Praktiken, wie bei Afrikanerinnen in Europa zu beobachten, in die Illegalität und Heimlichkeit abgedrängt.Ähnlich wird es in vielen anderen Fällen sein: Auch die im Islam eigentlich nicht verbotene Sklaverei ist in den entsprechenden Regionen längst außer Gebrauch gekommen (wenigstens offiziell - informell gibt es sklavereiähnliche Abhängigkeiten immer noch, auch anderswo). Die mögliche Vielehe der Mormonen wie der Muslime wird ebenfalls in vielen Regionen nicht mehr praktiziert.Wandel durch Annäherung? Auch unter den Bedingungen der Globalisierung ist dies ein langer Weg, aber anders sind die Menschenrechte, das Recht auf die eigene Kultur eingeschlossen, nicht überall in den verschiedenen Kulturen zu verankern.Dieter Kramer arbeitet am Frankfurter Museum für Völkerkunde und lehrt als Professor am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien
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