Die ungeschminkte Wahrheit ist: Eine Friedensordnung, die den Namen »europäisch« verdient, existiert nicht. Ferner: Die Sicherheitsordnung, die wir haben, ist ineffizient, fragmentiert und völlig überrüstet. Und schließlich: Die deutsche Außenpolitik, die laut Koalitionsvertrag »Friedenspolitik« sein soll, lässt bislang Strategie und Konzept vermissen.
Europa wird von einer Reihe von Paradoxien geprägt, wenn nicht gar beherrscht. Die Folgen sind Kriege und gewaltsame Konflikte - auch mitten in Europa - mit Hunderttausenden von Toten, Ver wundeten und Flüchtlingen.
Paradoxien des gegenwärtigen Sicherheitssystems
Zu den Paradoxien der Europäischen Ordnung von heute gehören zum Beispiel laut starke Bekenntnisse aller politischen Kräfte zur Krisenprävention einerseits und die gleichzeitige Ignoranz und Passivität der europäischen Staatengemeinschaft gegenüber erkennbaren oder gar schon eskalierenden Konfliktpotentialen andererseits. Vorsorgen ist besser als Heilen, bleibt bloßes Lippenbekenntnis.
Mit oder ohne Absicht wurde in Dayton zum Beispiel das Kosovo vergessen. Über Jahre hinweg fanden die Kosovo-Albaner darüber hinaus kaum Gehör bei der europäischen Völkergemeinschaft. Erst als ihre soziale Verteidigung in den bewaffneten Kampf umschlug, erst als aus Freiheitskämpfern Terroristen wurden, erst als die Serben begannen, albanische Zivilisten zu massakrieren, erst als albanische Nationalisten drohten, um eines Großalbaniens willen den gesamten Balkan in einen Krieg zu verwickeln, erst da erwachte Europa aus seiner Lethargie und zwang Serben und Kosovo-Albaner an den Verhandlungstisch von Rambouillet. Zu spät! Fünf nach zwölf ist Prävention nicht mehr möglich. Schon gar nicht, wenn die bitter notwendigen Strukturen, Mechanismen, Finanzmittel und Personen für eine effektive und erfolgreiche Prävention fehlen beziehungsweise erst gefunden oder aufgebaut werden müssen.
So scheiterte das Holbrooke-Milosevic-Abkommen vom Oktober 1998 unter anderem deshalb, weil die zugesagten 2 000 OSZE-Verifikateure von der europäischen Sicherheitsordnung nicht vorgehalten und auch nicht rasch genug gefunden wurden. So kann auch das nach dem Krieg von der NATO errichtete »Protektorat« (zu deutsch »Schutz«-Gebiet), bis heute Vertreibungen, Plünderungen und Mord nicht verhüten, weil schlichtweg die erforderlichen 3.000 (internationalen) Polizisten fehlen. Auch sie sind in der gegenwärtigen europäischen Sicherheitsordnung weder vorgesehen, noch kam in den vergangen Monaten des Krieges jemand in den Planungs- und Führungsstäben der kriegsführenden Parteien auf die Idee, rechtzeitig, sprich: präventiv, eine entsprechende internationale Polizei zu suchen beziehungsweise aufzubauen. Nochmals: Zivile Vorsorge ist bloßes Lippenbekenntnis.
Anders dagegen die militärische Vorsorge. Auch sie gehört - wenngleich aus gegenläufigen Gründen - zu den großen Paradoxien der europäischen Sicherheitsordnung. Zwar ist in der öffentlichen Meinung die Ansicht weit verbreitet, das vergangene Jahrzehnt nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes sei eine »Abrüstungsdekade« gewesen und die NATO-Staaten hätten in einem nie dagewesenen Ausmaß überproportional abgerüstet. Bei Lichte besehen, erweist sich das jedoch als ein gefährlicher Irrglaube. Richtig ist vielmehr, dass der weltweite Rückgang der Militärausgaben und der Bestände an Soldaten in erster Linie auf Reduzierungen im Gebiet der vormaligen Sowjetunion zurückzuführen ist. Die Militärausgaben Russlands liegen gegenwärtig bei lediglich 20 bis 40 Milliarden US-Dollar, die der USA und der europäischen NATO-Staaten dagegen noch immer bei ca. 270 beziehungsweise 180 Milliarden US-Dollar. Die NATO gibt somit nicht nur das Zehn- bis Zwanzigfache von Russland aus. Allein die 19 Staaten der NATO haben mit der gewaltigen Summe von über 450 Milliarden US-Dollar zugleich mehr als die Hälfte der gesamten Rüstungsausgaben der etwa 190 Staaten dieser Welt zu verantworten.
Die Schlussfolgerung, stärker abzurüsten, wird gleichwohl nicht gezogen. Im Gegenteil: Auf dem jüngsten EU-Gipfel in Köln am 4. Juni 1999 wurde der »Ausbau von wirksamen europäischen militärischen Fähigkeiten« und die »Umstrukturierung der europäischen Verteidigungsindustrien mit dem Ziel einer engeren und effizienteren Zusammenarbeit« beschlossen.
Spätestens seit dem Kölner Gipfel ist erkennbar: Die Idee der »Zivilmacht Europa« wird mehr und mehr Makulatur. Die NATO-Staaten führen ihren absurden und teuren Rüstungswettlauf weithin mit sich selbst. Von der Unterdrückung der Kosovo-Albaner in Jugoslawien hat der Rüstungskoloss NATO hingegen Serbien nicht abschrecken können. Dass darüber hinaus selbst der Einsatz der riesigen Kriegsmaschinerie das propagierte Ziel der Verhinderung einer »humanitären Katastrophe« nicht verwirklichen konnte, wurde - je länger der Krieg dauerte - immer offensichtlicher.
Europa als Vasall der USA?
Ein drittes Paradoxon besteht darin, dass stets von einer europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung ausgegangen wird, Europa als (allein oder als gleichberechtigt) handelnder sicherheitspolitischer Akteur aber gar nicht existiert. Zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes hatte Europa(-West) seine sicherheitspolitischen Belange an die USA direkt oder an den von den USA dominierten Militär pakt NATO delegiert. Die USA waren die Lösung des Problems (europäischer) Sicherheit. Heute - zehn Jahre nach der Zeitenwende - hat sich an der strukturellen Abhängigkeit Europas von Ame rika nichts oder nur wenig geändert. Der frühere US-Präsidentenberater Zbigniew Brzezinski gibt diesem Zustand in seinem Buch Die ein zige Weltmacht zu treffend, wenn auch für Europa wenig schmeichelhaft, einen Namen: »Tatsache ist schlicht und einfach, dass Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tribut pflichtige von einst erinnern.«
Richtig ist: Frieden und Sicherheit sind in Europa auch zehn Jahre nach dem »Epochenbruch« noch immer nur mit den USA zu erzwingen. Der Dayton-Prozess, der Ägäis-Konflikt oder aktuell der Kosovo-Konflikt belegen diese Aussage. Doch darf Friedenserzwingung mit militärischen Mitteln nicht - mit einer für Europa so dringend erforderlichen - vorbeugenden Friedenspolitik im Rahmen einer funktionierenden und effektiven Sicher heitsordnung verwechselt werden. Letztere soll ja gerade den Einsatz militärischer Mit tel überflüssig machen, Kriege ver hüten helfen. Solange sich aber die Europäer nicht auf eine gemeinsame Friedens- und Sicherheitsordnung einigen, solange wird Amerika in Europa seinen dominanten, ja hege monialen Einfluss behalten.
Es liegt im Interesse der USA, nicht Europas, dass sich dieser Teufelskreis immer wieder aufs Neue schließt. Soll er beendet werden, so muss der Tabubruch mit gedacht werden: Entweder die USA ordnen sich (der Vision) einer Sicherheitsordnung nach dem Leitgedanken der Stärke des Rechts ein und unter, oder die Sicherheitsarchitektur Europas muss zumin dest auf Zeit auf die Einbeziehung Ame rikas verzichten.
Zu den Paradoxien des gegenwärtigen Sicherheitssystems gehört schließlich viertens, dass in den Jahren nach 1989/90 die Jahrhundertchance bestand und auch heute noch besteht, eine stabile und dauerhafte Friedens- und Sicherheitsordnung in und für Europa im Sinne eines regio nalen Systems Kollektiver Sicherheit zu schaffen, wie es Kapitel VIII der UN-Charta, aber auch Ar tikel 24 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vorsehen. Diese Chance wurde bislang nicht genutzt.
Gemessen an der Jahrhundertchance des Epochenbruchs von 1989/90 ist die Fort führung der NATO ein grundlegender Fehler. Diese Feststellung muss um so mehr für die Ausweitung der NATO nach Osten gelten. Militärbündnisse wie NATO oder WEU umschließen - mit oder ohne Osterweiterung - immer nur einen Teil des europäischen Kontinents. Sie führen die Spaltung Europas in sichere und unsichere, stabile und instabile Zonen fort. Konflikte außerhalb ihrer Grenzen können sie nicht präventiv bearbeiten, wie das Bei spiel des vormaligen Jugoslawien zeigt. Sie haben anders als ein System Kollektiver Sicherheit nicht die Mittel und Mechanismen hierfür.
Darüber hinaus sind Militärbündnisse selbst ein latenter Faktor für Isolierungs- oder gar Be drohungswahrnehmungen der von der Mitgliedschaft ausgeschlossenen Staaten. Gegen-Bündnisse, Rüstungseskala tionen und Abschreckungsdenken können die Folge sein. Und wie die Realität zeigt: immer wieder Krieg.
Ein System kollektiver Verteidigung kann ein System kollektiver Sicherheit nicht ersetzen, wie die Apologeten der NATO behaupten. Es genügt auch nicht, wie es das Bundesverfassungericht in einem paradoxen obiter dictum vom 12. Juli 1994 getan hat, die NATO einfach in ein System kollektiver Sicherheit umzudeklarieren.
Führungsrolle mit Frankreich und Russland teilen
Ist es wirklich ein gefährlicher Sonderweg, wenn Deutschland nach Alternativen sucht, den Pfad der Paradoxien verlässt? Nur Ideologen und Apologeten denunzieren die Rolle des dringend erforderlichen Wegbereiters und beispielgebenden Vorreiters bei der Suche nach einer dauerhaften Friedens- und Sicherheitsordnung als Sonderweg.
Denn: Soll die historische Chance nicht völlig verspielt werden, muss die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung endlich vom Kopf auf Füße gestellt werden. Was Europa dringend braucht, ist ein regionales System Kollektiver Sicherheit, das auf einer Rechtsordnung ruht, die im Ordnungsfall keiner weiteren Mandatierung bedarf. Sie besäße ausreichende und effiziente Instrumente der vorbeugenden Krisenprävention und der friedlichen und zivilen Streitbeilegung, sie könnte Aggressoren und Kriegsverbrecher verfolgen und vor Gericht stellen und hätte (in Kooperation mit der NATO und WEU) militärische Erzwingungsmittel, die als ultima ratio nicht der politischen Willkür Tür und Tor öffnen, sondern Ordnungsrecht folgen und gegebenenfalls wieder herstellen.
Ob Deutschland eine Vor machts- und Führungsrolle auf dem Weg zu einer solchen dauerhaften Friedens- und Sicherheitsordnung in und für Europa übernehmen soll, lässt sich nicht einfach mit »Ja« oder »Nein« beantworten. Das hieße die Realität ebenso wie die Geschichte Deutschlands zu leugnen. Für Deutschland als stärkste Macht Europas bedeutet dies zweierlei: zum einen Teilung der Führungsrolle, zum anderen »Führen durch Dienen«.
Was heißt »Teilung der Führungsrolle«? Der Wille, ein geopolitisch definiertes Europa zu schaffen, findet sich außer in Deutschland gegenwärtig am stärksten in Frankreich. Die Bereitschaft, ein regionales System Kollektiver Sicherheit in und für Europa zu bauen, ist gegenwärtig in Russland noch immer vorhanden oder kann wiederbelebt werden. Nur im Schulterschluss von Frankreich und Deutschland und unter gleichberechtigter Beteiligung Russlands und anderer Staaten kann der Aufbau Europas gelingen, kann eine europäische Sicherheitsarchitektur funktionieren. Deutschland muss seine Führungsrolle deshalb mit Frankreich und Russland teilen, muss dem Nachbarn im Westen ins besondere auch die militärische Vormacht überlassen. Gelingt der Schulterschluss mit den genannten und weiteren Staaten, so kann vom Beginn einer wirklichen europäischen Sicher heitsarchitektur gesprochen werden.
Und »Führen durch Dienen«? Die Antwort findet sich seit 50 Jahren im Grundgesetz für die Bundesre publik Deutschland: »Das deutsche Volk (will) dem Frie den in der Welt dienen« (Präambel). »Dienen« heißt aber, »sich aktiv zur Verfügung zu stellen«. Sich dem Frieden zur Verfügung zu stellen, beinhaltet wiederum die Bereit schaft, auch »Vorleistungen« zu erbringen, gegebenenfalls sogar (kurzfristig) »Nachteile in Kauf zu nehmen«.
Das aktive Moment in der Bedeutung von »dienen« verlangt dagegen Engagement und Eigeninitiative vom »deutschen Volk« im Sinne einer stetigen und nachhaltigen Friedenspolitik mit dem Ziel der dauerhaften Abschaffung der Institution Krieg und dem dynamischen Aufbau gewaltfreier (internationaler) Strukturen. Versteht man »dienen« in diesem Sinne als Kehrseiten ein und derselben Medaille, so kann Deutschland bei der Verwirklichung des Zusammenwachsens Europas durchaus auch die »Schrittmacherrolle« übernehmen, sprich: Führung und Stärke zeigen, ohne in Widerspruch mit den Erfahrungen aus der Vergangenheit, der Verfassung oder mit über die Jahre hinweg bewährten Verfahren der Einordnung und der Zurückhaltung zu geraten.
Die Möglichkeiten für Deutschland zu führen, um zu dienen, sind vielfältig. Sie betreffen - um nur einige zu nennen - die finanzielle und rechtliche Stärkung der OSZE ebenso wie Initiativen der Abrüstung und insbesondere der präventiven Rüstungskontrolle, inklusive einseiti ger Rüstungsbeschneidungen, ferner den Aufbau einer internationalen Polizei jenseits militärischer Streitkräfte, die vollständige Unterstellung der Bundeswehr unter multinationale militä rische Führungsstrukturen, die Verschärfung der Exportbestim mungen für Kriegswaffen und militärische Ausrüstungsgüter, die Bereitstellung von Embargo-Kapazitäten, die Schaffung eines Sanktions- bzw. Solidaritätsfonds und Vergleichbares mehr.
Vieles davon findet sich als Absichtserklärung auch in der Koalitionsvereinbarung der gegenwärtigen Bundesregierung. Deutschland muss endlich seine recht verstandene Führungsrolle in und für Europa übernehmen: Dem Frieden dienen!
Unser Autor ist wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH)
Bisherige Beiträge in der Reihe "Deutscher Sonderderweg":
Ausgabe 36: Eine allseits vertraute Folie
Ausgabe 35: Raserei auf der abendländischen Autobahn
Ausgabe 34: Keine Lust auf Romantik
Ausgabe 34: Hindernislauf statt Sonderweg
Ausgabe 33: Der Sonderweg als Nebengleis
Ausgabe 32: Kriegsliberalismus
Ausgabe 32: Bündnis(un)treue als Popanz
Ausgabe 31: Bündnistreue als letztes Argument
Ausgabe 30: Bündnistreue als Staatsräson
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.