Nicht die serbische Armee, sondern vielmehr die UÇK war ursächlich für die Konflikteskalation und die Erzeugung einer humanitären Krise seinerzeit im Kosovo verantwortlich, heißt es ungeschminkt im Report der Parlamentarischen Versammlung der NATO (*). Mit Blick auf die "Befreiungsorganisation" der Kosovo-Albaner wird weiter zugegeben: Die NATO-Staaten waren an "Stabilität in der Region interessiert". Die UÇK aber strebte "eine Verschärfung der Notlage an, um die Bevölkerung zum Aufstand für die Unabhängigkeit zu bewegen. So nutzte die UÇK das Holbrooke-Milosevic-Abkommen als Atempause, um ihre Kräfte nach den Rückschlägen des Sommers zu verstärken und neu zu gruppieren. Die serbischen Repressionen ließen unter dem Einfluss der KVM (Kosovo Verification Mission der OSZE - die Red.) in der Zeit von Oktober bis Dezember 1998 nach. Dagegen fehlte es an effektiven Maßnahmen zur Eindämmung der UÇK, die weiterhin in den USA und Westeuropa - vor allem in Deutschland und der Schweiz - Spenden sammeln, Rekruten werben und Waffen über die albanische Grenze schmuggeln konnte. So nahmen die Angriffe der UÇK auf serbische Sicherheitskräfte und Zivilisten ab Dezember 1998 stark zu. Der Konflikt eskalierte neuerlich, um eine humanitäre Krise zu erzeugen, welche die NATO zur Intervention bewegen würde."
Wer diese Tatsachen bereits vor oder während des Kosovo-Krieges artikulierte, wurde als Verschwörungstheoretiker und Serbenfreund diffamiert. Den einzigen deutschen Soldaten mit aufrechtem Gang - Brigadegeneral Loquai - hat das nach Intervention des Bundesverteidigungsministeriums den Job bei der OSZE in Wien gekostet. Aber was eigentlich ist mit all den unschuldigen Menschen, die als sogenannte Kollateralschäden ihr Leben verloren haben?
Nimmt man das späte Geständnis der Parlamentarischen Versammlung der NATO ernst, wer trägt dann die Verantwortung, die ganz persönliche Schuld für den Tod des alten Nachtwächters in der bombardierten Tabakfabrik, für den Tod des bulgarischen Kleinhändlers im Omnibus, des Montenegriners, der Mutter mit den beiden kleinen Mädchen im Auto auf der Brücke, des flüchtenden Albaners auf dem Traktor, des serbischen Deserteurs auf dem Fahrrad, der Krebskranken im stromabhängigen Hospital, der Journalisten in der chinesischen Botschaft? Wirklich der "Dämon" in Belgrad, wie uns die westlichen Demokraten glauben machten? Oder doch die demokratisch legitimierten Abgeordneten, Staatssekretäre, Minister, die einen Luftkrieg beschlossen, ohne dass die meisten von ihnen auch nur eine Ahnung von der alles zerstörenden Wucht tausender von Einsatzraten hatten, und denen selbst Bezeichnungen wie Cruise missiles oder Kasetten-Bomben bis vor kurzem völlig fremd waren?
Verfassungswidrige Entscheidungen
Wer von uns hätte sich je vorstellen können, dass Demokratien - konkret: unsere Politiker - einen Krieg aus Gründen einer "humanitären Katastrophe" führen, im Vorfeld des Militäreinsatzes aber keineswegs Vorsorge für eben die Opfer dieser Katastrophe treffen - im Gegenteil, medizinische Versorgung, Lebensmittel, Wasseraufbereitung oder Zelte mit oder ohne Absicht einfach vergessen? Und vor allem: Wer von uns hätte sich je auszumalen gewagt, dass deutsche Demokraten dazu beitragen, Menschenleben zu vernichten, ohne die Fakten und Daten wirklich zu kennen - und dafür noch Applaus zu bekommen von Journalisten, Philosophen, Dichtern, Juristen, Friedensforschern?
Nach deutschem Verfassungsrecht ist die Entscheidung für Krieg ohne Kenntnis der Fakten verfassungswidrig. Artikel 26/Absatz 2 des Grundgesetzes verlangt im Gegenteil - als Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg - absolute und zweifelsfreie Gewissheit. Die Entscheidung der NATO - einschließlich Deutschlands -, Jugoslawien zu bombardieren, basierte aber gerade nicht auf zweifelsfreier Gewissheit, sondern auf einem unbestimmten "Gefühl", wie die Parlamentarierversammlung jetzt zugibt: "Mit dem bis heute nicht restlos aufgeklärten angeblichen Massaker von Racak entstand das Gefühl eines Handlungsbedarfs, das nach dem Scheitern der Rambouillet-Verhandlungen zu den von der UÇK herbeigesehnten NATO-Luftangriffen führte." (Hervorhebung D.L.)
Aber schlimmer noch: Waren Daten und Fakten - vor Kriegsbeginn - wirklich unbekannt? War der Kosovo-Krieg allein deshalb unvermeidbar, weil die Lageberichte der Ämter und Dienste gegenteilige Schlussfolgerungen - und wenn man so will: gegenteilige Gefühle - von vornherein nicht zuließen?
Klammern wir einmal die vielen dirty secrets wie das erwähnte "Massaker" von Racak oder das angebliche Massaker von Rugovo oder das angebliche KZ in der Fußballarena von Pristina oder den selbst gezeichneten "Hufeisenplan" einfach aus. Lassen wir also all die bewussten Manipulationen der Öffentlichkeit zur Erzeugung von Gefühlen beiseite, an denen nicht nur NATO-Strategen, sondern auch und gerade deutsche Politiker beteiligt waren. Was sagen die vertraulichen - der Öffentlichkeit nicht bekannten - Lage-Analysen der Dienste vor Kriegsbeginn? Entsprechen oder widersprechen sie dem Bild des Kosovo-Konfliktes und seiner Eskalation, das die Parlamentarierversammlung heute, zwei Jahre später, so unverblümt zeichnet?
"Hit-and-Run Aktionen" der UÇK
Folgt man einer Lageanalyse des Auswärtigen Amtes (AA) vom 19. März 1999, so wird klar, dass die politischen Entscheidungsträger bereits vor dem Krieg Bescheid gewusst haben (müssen). In der internen Vorlage, die wenige Tage vor Beginn des NATO-Bombardements am 24. März gefertigt und an den Außenminister ebenso wie an das Bundesverteidigungsministerium weitergereicht wurde, verdeutlichen die Autoren expressis verbis, dass der Waffenstillstand nicht allein von den Serben, sondern "von beiden Seiten nicht mehr eingehalten" wird. Als Ziel der Operationen der jugoslawischen Streitkräfte (VJ) werden auch nicht Völkermord und Vertreibung angegeben. Ziel sei vielmehr, "durch gezielte Geländebereinigung sämtliche Rückzugsmöglichkeiten für die UÇK zu beseitigen". Die Zivilbevölkerung werde in der Regel sogar "vor einem drohenden Angriff durch die VJ gewarnt." Allerdings werde "die Evakuierung der Zivilbevölkerung vereinzelt durch lokale UÇK-Kommandeure unterbunden". Nach Abzug der serbischen Sicherheitskräfte kehre die Bevölkerung meist in die Ortschaften zurück. Eine Massenflucht in die Wälder sei nicht zu beobachten. Und dann heißt es: "Von Flucht, Vertreibung und Zerstörung im Kosovo sind alle dort lebenden Bevölkerungsgruppen gleichermaßen betroffen. Etwa 90 vormals von Serben bewohnte Dörfer sind inzwischen verlassen ... Anders als im Herbst/Frühwinter 1998 droht derzeit keine Versorgungskatastrophe."
Erhärtet wurde diese Analyse des AA durch den vertraulichen Lage-Bericht der Nachrichtenoffiziere des Verteidigungsministeriums vom "23. März, 15.00 Uhr". Darin - erstellt nur 24 Stunden vor Kriegsbeginn - heißt es ausdrücklich: "Das Anlaufen einer koordinierten Großoffensive der serbisch-jugoslawischen Kräfte gegen die UÇK im Kosovo kann bislang nicht bestätigt werden". Zu einer großangelegten Operation gegen die UÇK im gesamten Kosovo seien die serbisch-jugoslawischen Kräfte nicht fähig. Und dann formulierten die Nachrichtenoffiziere schon damals eine Aussage, die sich heute auch im Generalbericht der NATO-Parlamentarier findet: "Die UÇK ihrerseits wird wahrscheinlich weiter versuchen, durch die bekannten Hit-and-Run-Aktionen die serbisch-jugoslawischen Kräfte zu massiven Reaktionen zu provozieren in der Hoffnung, dass diese in ihren Ergebnissen hinsichtlich Zerstörungen und Flüchtlingen ein Ausmaß annehmen, das sofortige Luftschläge der NATO heraufbeschwört."
Wer diese Berichte das erste Mal liest, ist zweifellos äußerst erstaunt. Zum Beispiel über die Information, dass die Albaner von den serbischen Streitkräften vorab gewarnt wurden und dann auch wieder in die Dörfer zurückkehren konnten. Diese Information passt so gar nicht in das Bild des seinerzeit Gehörten. Der nächste Gedanke ist: Warum wurde der Öffentlichkeit dies alles vorenthalten? Und schließlich fällt auf, das soeben Gelesene ist doch wohl eher die Lagebeschreibung eines Bürgerkrieges oder eines bürgerkriegsähnlichen Geschehens - mit all den einhergehenden Grausamkeiten -, nicht aber ein Bericht, der es rechtfertigte, von Völkermord, Auschwitz, Konzentrationslagern, ethnischer Säuberung und systematischer Vertreibung zu sprechen.
Ernstfall Frieden
Unser Bild vom Kosovo-Konflikt ist vor allem durch die jugoslawische Unterdrückungspolitik seit 1989, die Manipulationen des Westens vor und während des NATO-Krieges und durch die Verbrechen an den Kosovo-Albanern nach Beginn der NATO-Luftangriffe im März 1999 geprägt. Durch die Manipulationen der öffentlichen Meinung vor und während des NATO-Bombardements erscheint uns die Entwicklung als eine kontinuierliche Abfolge einseitig von der jugoslawischen Seite ausgehender Verbrechen, die geradezu zwangsläufig zum Eingreifen der NATO führen mussten, um noch Schlimmeres zu verhindern. Dieses Bild stimmt nicht in jedem Fall. Immer wieder gab es bis zum März 1999 Perioden, in denen Friedenschancen bestanden und nicht genutzt wurden. Dies gilt besonderes für den Herbst 1998.
Mit diesen Überlegungen sollen, ja dürfen die Verbrechen der Serben an den Kosovo-Albanern in der Zeit vor dem Holbrooke-Milosevic-Abkommen - also bis zum Oktober 1998 - und nach Beginn der NATO-Luftangriffe - also nach dem 24. März 1999 - keinesfalls verharmlost oder entschuldigt werden. Im Gegenteil! Gewaltverbrechen müssen zwingend strafrechtlich verfolgt werden, sei es mit nationalstaatlichen Verfahren oder durch einen internationalen Gerichtshof.
Wenn und solange aber die internationale Staatengemeinschaft, internationale Organisationen oder einzelne Staaten aus den unterschiedlichsten Gründen bereit sind, mit vermeintlichen oder tatsächlichen Rechtsbrechern Verträge zu schließen - der Dayton-Vertrag oder das Hoolbroke-Milosevic-Abkommen sind ebenso Beispiele wie analoge Vereinbarungen mit Saddam Hussein - so sind danach alle Vertragspartner gleichermaßen verpflichtet, das Vereinbarte auch einzuhalten. Welchen Sinn sollten solche Verträge sonst haben? Die einseitige Parteinahme zu Lasten eines Vertragspartners unter Verweis auf das Geschehen aus der Zeit zuvor ist nach Abschluss der Vereinbarung jedenfalls nicht mehr möglich - weder politisch, noch rechtlich, schon gar nicht moralisch. Die Parteinahme zugunsten einer Seite wider besseres Wissen und in deren Folge ein Krieg sind nicht nur unzulässig. Es muss im Gegenteil sogar verlangt werden, dass die mögliche Garantiemacht - in diesem Fall die NATO - bei entsprechender Vertragsverletzung der bisherigen "Opfer" zu Gunsten des vormaligen Rechtsbrechers interveniert.
Die NATO aber hat sich im Kosovo-Konflikt sehenden Auges zum Instrument der UÇK gemacht, zumindest machen lassen. Aus der Perspektive der UN-Charta ein Völkerrechtsbruch auf der Basis des vermeintlichen Rechts des Stärkeren zu Lasten der Stärke des Rechts mit unabsehbaren Folgen für die internationale Ordnung.
Zu den zivilisatorischen Errungenschaften gehört es, Krieg nur noch als ultima ratio - als extremen Ausnahmefall - zu akzeptieren. Entscheidungen über Krieg und Frieden verlangen daher zweifelsfreie Gewissheit. Angriff und Verteidigung dürfen nicht zu Siegerdefinitionen verkommen. Sind Zweifel da, kann und darf die Entscheidung keinesfalls für Krieg lauten. Es reicht deshalb keinesfalls aus, wenn heute die NATO-Parlamentarier in Ziffer 91 ihres Generalberichtes selbstkritisch bekennen: "Die Staatengemeinschaft darf sich ihr Handeln nicht von einer extremistischen Minderheit aufzwingen lassen." Die Lehre aus dem rechtswidrigen Kosovo-Krieg der NATO muss viel weiter gehen, grundsätzlicher und zugleich konzeptioneller sein. Johannes Rau hat sie in einer seiner Reden wie folgt gezogen: "Für mich lautet die wichtigste Lehre: Wir müssen durch vorbeugende Politik die falsche Alternative zu vermeiden suchen, dass wir Schuld auf uns laden durch Wegschauen oder dass wir Schuld auf uns laden durch den Einsatz militärischer Mittel, der auch völlig Unschuldige trifft."
Mit anderen Worten: Vornehmste Aufgabe von Politik ist es vielmehr, Krieg zu verhüten, nicht ihn zu führen. Situationen, die als Alternativen nur die Übel zulassen, Schuld auf sich zu laden oder Unschuldige durch den Einsatz militärischer Mittel zu töten, darf es deshalb nicht geben. Treten sie ein, hat die Politik versagt. Nicht der Krieg ist also der Ernstfall, in dem sich die Politik zu bewähren hat, sondern der Frieden.
(*) Parlamentarische Versammlung der NATO, Politischer Ausschuss: Die Folgen des Kosovokonflikts und seine Auswirkungen auf Konfliktprävention und Krisenmanagement, Generalbericht, Internationales Sekretariat.
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