Schon wieder diese Visegrádstaaten! Kaum hatte die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihren „European Green Deal“ verkündet, regte sich Widerstand in Polen, Tschechien und Ungarn. Dabei hatte von der Leyen ihre Strategie für eine grundlegende Energiewende sowohl gut vorbereitet als auch gut verpackt: „This is Europe’s man on the moon moment“, ähnlich historisch wie die erste Landung eines Menschen auf dem Mond im Jahr 1969. Es ist anzunehmen, dass von der Leyen die Mondlandung nicht als Etappe im Systemwettstreit zwischen der UdSSR und den USA, sondern als allgemeine Errungenschaft menschlichen Schöpfergeistes im Kopf hat.
Der Name ihres Programms erinnert an ein weiteres wichtiges Ereignis in der Geschichte des Westens, den „New Deal“ von US-Präsident Franklin Delano Roosevelt, der einen Übergang zu einer anderen Typ des Kapitalismus aus der Weltwirtschaftskrise heraus ermöglichte: jenen zum Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit.
Nun also wieder diese Visegrádstaaten: Der epochalen Anklänge ungeachtet drohten sie, den Green Deal zu untergraben, sollten ihre Bedingungen nicht erfüllt werden: Zuschüsse für den Umbau der Energieproduktion, Absicherungen für Atomkraftwerke, keine Preissteigerungen beim Strom. Doch bei genauerem Hinhören schwingt in der Kritik an der „Blockadehaltung der Osteuropäer“ ein bedenklicher Ton mit: Sie hat etwas von der Empörung besorgter Eltern gegenüber ihren Kindern, die wieder einmal nicht darauf hören wollen, was für sie besser ist. Doch Staatengemeinschaften sind keine Familien.
Um diesen Einwand verständlich zu machen, ist es nötig, auf der Zeitschiene etwas zurückgehen: bis in die Umbrüche der 1990er Jahre, die ambivalente Erinnerungen und Vorbehalte gegenüber jeglicher radikalen Veränderung der gesellschaftlichen Entwicklungsziele hinterließen.
1989 war das Eingangstor zu jener „großen Transformation“, die vom Staatssozialismus zu einem neoliberalen Kapitalismus führte. Man fühlte sich aus der Vorherrschaft der sowjetischen Entwicklungsdiktatur befreit, die in ihrem Herrschaftsbereich immer wieder Versuche einer eigenständigen Entwicklung niedergeschlagen hatte, so 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei.
Allerdings war die enthusiastisch begrüßte Befreiung vom alten System mit vielen Zumutungen im Alltagsleben verbunden. Arbeitslosigkeit etwa, bisher weitgehend unbekannt. Besonders in Polen traf sie viele Menschen hart. Dazu kam eine von der Transformation verursachte Superinflation, die die Sparguthaben innerhalb kurzer Zeit deutlich reduzierte oder sogar (wie wiederum in Polen) ganz vernichtete. Schließlich machte die Eingliederung der Staaten in die kapitalistische Weltwirtschaft die Firmen und Banken jener Länder von westeuropäischen Konzernen abhängig. Ostmitteleuropa wurde zur verlängerten Werkbank und zum Absatzmarkt des Westens. Migration von Ost nach West für meist schlechter bezahlte Arbeiten kam dazu. So lässt sich das Gefühl eines Teils der Bevölkerung erklären, man hätte bloß die Abhängigkeit von Moskau gegen die von Brüssel eingetauscht.
Schimpfen auf die Zögernden
2015 schließlich kam die Migrationskrise der EU. Obwohl die Menschen auf der Suche nach Sicherheit und einem besseren Leben gar nicht nach Ostmitteleuropa strebten, sondern nach Skandinavien, Großbritannien, Deutschland oder Österreich, wurden sie in Ostmitteleuropa als Gefahr gesehen. Das Gefühl einer Bedrohung durch Fremde wurde politisch instrumentalisiert, Viktor Orbáns Politik ist dafür exemplarisch. In Prag gab es Demos gegen die angeblich drohende Islamisierung. Dass 2015 die EU-Innenminister gegen den Widerstand der Visegrádstaaten verpflichtende Verteilungsquoten von 120.000 Flüchtlingen beschlossen, wurde zum Symbol jener gefühlten neuen Abhängigkeit von „Brüssel“. Diese Wahrnehmung wurde dadurch bestärkt, dass die EU-Mehrheit versuchte, durch Vertragsverletzungsverfahren und angedrohte Subventionskürzungen den Widerstand des Ostens zu überwinden.
Es geht in diesem Streit zwischen Ost und West nicht nur um Interessen und Argumente, es geht auch um Emotionen. Hilfreich ist es in diesem Fall, die eigenen Emotionen nicht als hochwertiger als jene der Gegenseite zu betrachten. Die Gleichheit der Mitgliedsstaaten der EU ist ein hoher Wert, vor allem für wirtschaftlich schwächere Länder. Zu dieser Gleichheit gehört dann auch eine gleiche Einbeziehung in die Vorbereitung von Entscheidungsprozessen bei Berücksichtigung unterschiedlicher Interessenlagen. Diese waren seit der EU-Debatte im Sommer 2019 um die CO2-Reduzierung bis 2030 bekannt.
Der Klimawandel betrifft alle. Aber der Weg zu einer anderen Weise der Produktion, des Verkehrs und des Konsums ist nicht für alle Staaten gleich zu beschreiten. Die Kosten sind je nach Lage unterschiedlich und je nach vorhandenem Reichtum verschieden schwer zu schultern. Die Primärenergieversorgung erfolgt in Polen zu 50 Prozent aus eigener Kohle, in Deutschland liegt dieser Wert bei 25 Prozent. Tschechien und Ungarn sind auch nicht die Einzigen, die auf die Kernenergie setzen, ein Weg, der zumindest weniger CO2 freisetzt, auch wenn er weniger nachhaltig als der Umstieg auf erneuerbare Energien erscheint.
Wenn man den Kampf gegen den Klimawandel nicht nur als Ziel, sondern vor allem als zu realisierende Politik, bestehend aus schrittweisen und schwierigen Entscheidungen begreift, hilft es nicht, sich über die Zögernden aufzuregen, es ist sogar kontraproduktiv. Hilfreicher wäre es, die Probleme der anderen zu berücksichtigen. Um dann eine Politik zu versuchen, die von den unterschiedlichen Interessen ausgeht. Vielleicht sind in diesem Sinne die Kompromisse der letzten EU-Ratstagung gegenüber den drei Visegrádstaaten sogar ein erster Schritt auf diesem Weg.
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