In Schleswig-Holstein wird mit dem Slogan "Eine Schule für alle" Wahlkampf gemacht. Das nördlichste Bundesland will Fakten schaffen, die von der Mehrheit der Länder abgelehnt werden. Die populäre Ministerpräsidentin Simonis wirbt dort für eine Schulform, die zwar nicht "Einheitsschule", aber doch "Gemeinschaftsschule" heißen soll. Dieter Wunder hält indes an dem Begriff der Gesamtschule fest, nicht zuletzt, weil dieser viel diskutierte Schultyp heute stärker nachgefragt ist als freie Plätze vorhanden sind.
Das in der Bundesrepublik vorherrschende dreigliedrige Schulsystem, von Haupt-, Realschule und Gymnasium ist seit der Veröffentlichung der jüngsten Pisa-Ergebnisse wieder in die Debatte geraten. Die politischen Lager sind in dieser Frage unversöhnlich. Anstatt durch Pisa beunruhigt zu werden, fühlen sich viele Diskussionsteilnehmer wohl, weil sie ihre Argumente aus den siebziger Jahren wiederholen können. Nur selten wird deutlich, dass sich die Lage gegenüber früher verändert hat. Etwa wenn der Bildungsforscher Wilfried Boos die Begabungstheorie des gegliederten Schulwesens für dummes Zeug hält und die Gliederung des Schulwesens allein durch die Geschichte erklärt.
Die gegenwärtige politische Situation lässt faktisch keine länderübergreifende Änderung der Schulstrukturen zu. CDU und CSU regieren die Mehrheit der Länder und lehnen die Abschaffung des gegliederten Schulwesens ab - schließlich sind die meisten ihrer Politiker in der Zeit der Gesamtschulkämpfe groß geworden. Die SPD scheut - mit Ausnahme Schleswig-Holsteins - Wahlkämpfe mit dem Thema Schulstruktur. Es ist bezeichnend, dass es der SPD in Brandenburg nicht schwer fiel, faktisch die Gesamtschule zugunsten der Oberschule (also der kombinierten Haupt- und Realschule) aufzugeben. Außerhalb Deutschlands wurde die Gesamtschule im Konsens der Parteien, manchmal sogar durch konservative Parteien durchgesetzt. Stoiber als Vorkämpfer der Gesamtschule?
Wer aus Pisa den Schluss zieht, dass das dreigliedrige System letztlich eine unverantwortbare Zahl an Verlierern hervorbringt, kann allerdings auch keine halbherzigen Auswege befürworten. Die vorherrschende ostdeutsche Schulstruktur - Gymnasium und daneben eine Sekundarschule (oder Mittel-, Regel-, Oberschule) - ist jedenfalls keine Lösung. Sie setzt an Stelle der Dreigliedrigkeit eine Zweigliedrigkeit, die Grundprobleme bleiben. Schüler werden einer Einheitssicht unterworfen, anstatt in ihrer Unterschiedlichkeit positiv wahrgenommen zu werden. Regional verschieden gehen meist zwischen 20 bis 40 Prozent eines Schülerjahrgangs auf das Gymnasium; dieser Königsweg eröffnet alle anspruchsvollen Bildungs- und Ausbildungswege. Die Mehrheit der jungen Menschen besucht eine gesellschaftlich geringerwertige Schule; die einen haben dort (manchmal nur mit unverhältnismäßigen Anstrengungen) Erfolg und erreichen gute Schulabschlüsse, die anderen (immerhin etwa ein Viertel aller Schülerinnen und Schüler) bleiben schulisch ohne Aussichten, vielen von ihnen ist der gesellschaftliche Misserfolg beschieden. Ausschlaggebend für diesen Skandal ist die Tatsache, dass die soziale Herkunft nach wie vor den Bildungsweg vieler Menschen bestimmt - das haben die Pisa-Studien gezeigt.
Wenn sich allerdings länderübergreifend überhaupt etwas bewegen soll, das in Richtung einer neuen schulpolitische Vielfalt ginge, müssten die Länder untereinander zukünftig großzügiger sein und darauf verzichten, in die Schulangelegenheiten eines anderen Landes hineinzureden und dennoch dessen Zeugnisse und Abschlüsse unbesehen akzeptieren. Die Bildungsstandards, die die Kultusministerkonferenz als Reaktion auf Pisa ausgearbeitet hat und mit denen einheitliche Ziele für alle Länder artikuliert werden, sollten dies eigentlich ermöglichen.
Die Einführung des gemeinsamen Schulbesuchs von Kindern und Jugendlichen in der Sekundarstufe I ist eine grundsätzliche und langfristige Entscheidung, die die engagierte Mitarbeit aller Betroffenen erfordert. Mindestens drei "Baustellen" müssen dafür eröffnet werden:
Zunächst müssten Lehrer lernen, junge Menschen in heterogenen Gruppen zu unterrichten, ohne dass dies zu einem Verzicht auf Leistungsansprüche führt. Sie sollten in der Lage sein, die Unterschiede einer Lerngruppe positiv wahrzunehmen und ein auf jeden einzelnen Schüler, jede einzelne Schülerin eingehendes Lernklima zu schaffen. Dafür müssen sie ein durchweg durch Ausbildung und Praxis eingeschliffenes Lehr-/Lernverständnis aufgeben, das besagt, guten Unterricht könne man nur in einer homogenen auf einem angeblich ähnlichen Leistungsniveau befindlichen Klasse bewerkstelligen. Dieser Unterricht richtet sich in der Regel an einen imaginären Durchschnittsschüler, der gar nicht existiert. Jungen Menschen geschieht Unrecht, wenn sie nicht so unterschiedlich wahrgenommen werden, wie sie sind, und schlechte Schüler gar einfach aussortiert werden. Mit der Idee heterogener Lerngruppen vertraut man auch darauf, dass Schüler und Schülerinnen Verantwortung übernehmen und sich untereinander helfen. Aus- und Fortbildung, vor allem die gemeinsame Arbeit von Lehrpersonen an besserem Unterricht können langfristig zu einer schulischen Praxis führen, die jedem einen individuellen Lernweg ermöglicht.
Neben der Veränderung der Lehre gibt es das Problem der sozialen Spaltung. Will die Gesellschaft der Bundesrepublik soziale Ausschlüsse zukünftig verhindern, zumindest aber mildern, müsste sie für die benachteiligten Schülerinnen und Schüler, seien sie Einwanderer, seien sie Unterschichtangehörige, sehr viel mehr als bisher tun. Die Hauptsorge nach Pisa wäre also nicht das Defizit im oberen Leistungsbereich, obwohl auch dies beunruhigen darf, sondern das der unteren 15, 20 oder 25 Prozent. Welcher Ministerpräsident hat dies bislang zur bildungspolitischen Priorität erhoben?
Und ein dritter Punkt im Umbau zu einer gemeinsamen Schule beträfe die Eltern: Sie müssten die Sicherheit haben, dass ihre Kinder auf der neuen Schule sehr gute Entwicklungschancen haben, mindestens so gute, ja sogar bessere als auf dem Gymnasium. Haben ihre Kinder Schwierigkeiten, so werden sie besser gefördert als derzeit in der Hauptschule. Eine Mehrheit der an Schule interessierten Eltern, besonders der Akademiker, müsste die neue Schule akzeptieren und dies auch in der politischen Auseinandersetzung deutlich machen.
Ich halte eine Strukturdebatte für überfällig, auch jetzt. Aber sie entbehrt solange der politischen Wirksamkeit, als die genannten Baustellen nicht eingerichtet werden. Zur Veränderung des politischen Klimas wäre zudem einiges notwendig. Dass das konservative Lager trotz Bildungsmisere eisern am dreigliedrigen Schulsystem festhält und die Gesamtschule beharrlich ablehnt, verhindert eine fruchtbare länderübergreifende Debatte um eine neue Schulform, die Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte auszugleichen versucht. Selbst der baden-württembergische Handwerkstag lehnt seit einer Reihe von Jahren das gegliederte Schulsystem ab, weil es nicht in der Lage ist, dem Handwerk den notwendigen qualifizierten Nachwuchs zu liefern.
Dr. Dieter Wunder war Mitglied des Sachverständigenrats bei der Hans-Böckler-Stiftung und der Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung. Seit 2001 berät er das Bildungsministerium von Rheinland-Pfalz für den Bereich Ganztagsschulen.
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