... doch da tanzte nur das Evchen im Schaufenster

ALLTAG Das »Buch des Lebens« - Lesestoff für Verwandte und gute Freunde

Mit langsamen Schritten biegt Eva Homa in die Rykestraße ein und steht vor jenem Haus, in dem sie vor 80 Jahren mit ihren Eltern wohnte. »Das war der Ort meiner fröhlichen Kindheit«, zeigt sie auf die Ladenwohnung, in der heute Bilderrahmen verkauft werden. »Nachmittags schauten meine Eltern aus dem Fenster und sahen uns beim Ballspielen zu. Wer sich am gewandtesten drehte, während er den Ball an die Wand warf, bekam von meinem Vater zehn Pfennig. Dafür konnten wir uns eine Schnecke oder einen ›Amerikaner‹ kaufen.«

Sofort drängen sich die Bilder von einst in ihren Kopf. »Ich erinnere mich noch an einen Nachmittag, als meine Eltern außer Haus waren. Da legte ich auf unser Grammophon eine Walzer-Platte auf, unter anderem mit der Melodie Rosen aus dem Süden. Die Gardine zog ich beiseite, stellte mich ins Fenster und tanzte. Im Nu blieben die Leute stehen, um zuzuschauen. Es kamen immer mehr Neugierige. Als die Schallplatte zu Ende war, deutete ich den Fensterguckern an, dass sie sich etwas gedulden sollten, da es gleich weiter gehe. Als meine Eltern eintrafen, sahen sie die vielen Menschen vor unserem Fenster. Zunächst waren sie furchtbar aufgeregt, weil sie dachten, es sei etwas passiert. Doch da tanzte nur das Evchen im Schaufenster.«

Ihr Traum, Schauspielerin und Tänzerin zu werden, blieb unerfüllt, obwohl ihr der Regisseur Moriz Seeler, der 1942 von den Nazis ermordet wurde, bescheinigte, reif für die Schauspielschule zu sein. Hitler kam an die Macht, als die Halbjüdin siebzehn war. Während Eva Homa vor dem Schaufenster steht und erzählt, hält sie ein kleines rotes Büch lein fest in der Hand. Vorn auf dem Cover ist eine Schwarz-Weiß-Fotografie zu sehen. Ein attraktives, junges Frauengesicht schaut dem Betrachter aufmerksam entgegen. Es ist ihr Porträt. Und es ihr Buch, ihr Buch des Lebens.

Zwei Häuserecken weiter, im Berliner Medienbüro Katrin Rohnstock, liegen noch 20 Exemplare. Mehr existieren nicht, und sie sind auch in keinem Buchladen zu erwerben. Ein Verlag hätte sich dafür nicht interessiert, denn der Lebensreichtum eines Menschen definiert sich nur über die Verkaufbarkeit des mit ihm gefüllten Buches. Auf dem deutschsprachigen Buchmarkt buhlen 70.000 Neuerscheinungen pro Jahr um Leser, und 4.000 Verlage konkurrieren um die Gunst von Buchhändlern und Rezensenten. Auch wenn der Wunsch an den Lebensgeschichten der Nahestehenden wächst, ist es für einen unbekannten Autor schwer, einen Verlag zu finden. Eva Homa wollte sich nicht in diese Abhängigkeit begeben und doch ihr ganz persönliches Buch schreiben lassen, so wie es ein Freund von ihr in England getan hatte. Nur für Verwandte und gute Freunde.

Der Öffentlichkeit bleibt der Blick ins Buch verwehrt, aber die Lebensgeschichte ist bewahrt; erzählt, ganz gegen den Trend. »Die Tradition des Erzählens, die Weitergabe von Lebenserfahrungen und -weisheiten geht verloren, weil Enkel und Großeltern nicht mehr zusammen leben, weil sie wenig Zeit miteinander verbringen und die Jungen wenig Muße zum Zuhören haben«, sagt Katrin Rohnstock, Initiatorin und Chefin des Projekts. »Deshalb entspricht so ein handliches Buch den modernen mobilen Verhältnissen - die Enkel können es mit in den Urlaub nehmen und in Ruhe lesen. Sie können es auch, wenn sie der Globalisierung folgend in die Welt ziehen, als Erbstück mitnehmen, es passt in den kleinsten Rucksack. Ganz im Gegensatz zu einem Haus oder Schrank.«

Für junge Leute wird die Frage nach der Herkunft, nach der eigenen Familiengeschichte immer wichtiger. In Zeiten, in denen nichts mehr sicher ist, wo jederzeit der Arbeitsplatz verloren gehen kann oder auch der Lebenspartner, in Zeiten, denen es keine verbindlichen Werte mehr gibt, wird die Identitätsfrage um so drängender. Familiengeschichte kann Identität stiften. Wenn junge Leute die Frage beantworten können, woher sie kommen, können sie sich auch leichter vergewissern, wer sie sind.

Doch was und wie erzählen Menschen ihre Lebensgeschichte(n)? Ist es Literatur oder Dokumentation, was sich zwischen den Buchdeckeln verbirgt? Auch die Schauspielerin Jenny Gröllman, zeigt sich erstaunt, als sie anlässlich der feierlichen Übergabe aus dem Buch liest. Sie hat es beim Buch des Lebens nicht mit herkömmlichen literarischen Mustern zu tun, einige Passagen lässt sie weg. Hier scheint sich eine eigene Kunstform herauszubilden - eine Übersetzung von erzähltem Leben in Schriftsprache. Wie die Alltagsgeschichten bearbeitet werden, dafür entwickelte Katrin Rohnstock eine eigene Poetik der Autobiografie: Die Sprachmelodie des Erzählers soll aus dem Text herausklingen, flüssig und verständlich, auch für Nachkommen, die den Erzähler nicht mehr persönlich kennen lernten. Doch ansonsten wird kaum poliert und frisiert. So entstehen ganz persönliche Geschichten. Das Buch des Lebens muss weder erfolgreich sein, den Zeitgeist bedienen, noch vor Literaturkritikern bestehen. »Einzige Instanz ist der oder die Erzählerin selbst. Sie wählen aus, was sie erzählen und wie. Wir sind nur der Stift in der Hand des Erzählenden.« Trauer, Komik und Pointen schafft das Leben selbst. Oder eben nicht. Die Textform passt sich dem an, dem das Leben gehört.

Seit knapp einem Jahr entstanden mittlerweile über ein Dutzend Bücher des Lebens, jedes für sich eine Arbeit von mehreren Monaten - die Klientel ist schließlich meist zwischen 70 und 90 Jahre alt. Die Frauen und Männer sind ehemalige Ministeriumsangestellte, Wissenschaftler oder Fleischermeisterin und Sekretärin. Sie kommen aus Berlin, München, Hamburg, Rostock oder Dresden. Die einen ziehen eine persönliche Bilanz, andere schreiben für ihre Enkel. Einige haben ihre Erinnerungen selbst aufgezeichnet, andere wollen lieber im persönlichen Gespräch erzählen: zu Hause, in der weißen Korbstuhlecke des Medienbüros, oder sie ziehen für ein paar Tage in ein kleines Landhotel, »denn manchmal fallen den Leuten plötzlich ganz wichtige Dinge am Mittagstisch ein«. Die einen tragen ihr Leben bereits im Kopf, die Erinnerungen sind klar und geordnet. Manche Erlebnisse werden erst im Erzählfluss wieder lebendig, liegen sie doch 50 oder 60 Jahre zurück. Erzählen zu können, eine geduldige, einfühlsame Zuhörerin vor sich zu wissen, ist für viele nicht nur ein Genuss, sondern auch eine Form der Verarbeitung. »Der Vorteil ist, dass ich eine Fremde bin. Ich trete in ihr Leben ein, genauso wie ich daraus wieder entschwinde, wenn ich meinen Dienst verrichtet habe«, sagt die Initiatorin.

Das Erzählte dann Schwarz auf Weiß gebannt zu finden, ist für viele eine Freude, vor allem dann, wenn die eigene Lebensbilanz positiv ausfällt. Manchmal jedoch bleibt ein bedrückendes Resümee. »Das Wichtigste in meinem Leben war zweifellos die Liebe! Die Liebe zum Menschen, zu Männern, zu Frauen, zu Kindern, zur Natur, zur Kreatur, zur Schöpfung schlechthin«, schreibt Eva Homa, um dann zu enden: »Meine Fehler, meine Schwächen, meine Grenzen kenne ich sehr genau: Gelernt habe ich daraus nichts! Auf die hypothetische Frage, ob ich die vergangenen 85 Jahre noch einmal so erleben möchte, würde ich spontan antworten: Nein Danke!«

Wie die Bestandsaufnahme auch immer ausfallen möge, alle verspüren einen gewaltigen Erzähldruck. »Oft fangen sie schon am Telefon mit ihrer Lebensgeschichte an«, sagt Katrin Rohnstock. »Unser Leben wird immer hektischer. Deshalb wächst bei vielen Menschen der Wunsch nach Besinnung. Es wächst das Bedürfnis nachzudenken, etwas festzuhalten und der Flüchtigkeit des modernen Alltags zu entreißen.« Weit über 50 weitere Anfragen liegen bereits vor.

Eva Homa hat ihr gesamtes Leben neu sortiert, all die Geschichten, Begebenheiten, Daten, die über 50 Umzüge. Sie holte Sehnsüchte und Enttäuschungen hervor, versah sie mit Namen, Straßen und Gesprächsfetzen. Manchmal stockte sie, wischte sich die Tränen ab. Der Tod ihrer Mutter war so ein Moment. Sie starb an Tuberkulose und konnte ihre Töchter, vor Angst, sie anzustecken, nie richtig in den Arm nehmen. Ihr Vater, ein Feingeist und Halodri, der sie aber später verprügelte und ihr den Rücken kehrte. Über den letzten Besuch ihres Onkels, bevor er ins KZ kam und ermordet wurde, konnte sie gar nicht reden. Sie schrieb es auf. Die ausführlich erzählte Geschichte über ihre selbst zerstörerische Liebe zu einem Arzt musste sie nochmals verarbeiten, und mit der verpassten Chance, Deutschland in den dreißiger Jahren für immer zu verlassen, quält sie sich noch heute herum.

Artur Willenberg machte den Anfang und war der erste, der sein Buch schrieb. Eigentlich wäre er nie darauf gekommen, wenn ihn nicht seine Enkelin so gedrängt hätte. Er dachte, mit dem Fotoalbum über sein Leben, das er ihr geschenkt hatte, würde sie sich zufrieden geben. Doch sie wollte mehr wissen, als den Großvater nur auf Bildern zu sehen. Also setzte er sich mit seinen 86 Jahren hin und begann in der Erinnerung zu kramen. »Eigentlich bin ich ja kein Schreiberling, aber ein paar Zeilen konnte ich ja aufschreiben«, schaut er einige Monate zurück. Doch die Seiten füllten sich schneller als gedacht. Und als er so beim Schreiben war, hörte er vom Angebot des Berliner Medienbüros. Nun saß er jeden Tag einige Stunden über seinem Linien-Heft. Ehefrau Ursel musste alles in die Maschine tippen. Doch er versäumte, sie angemessen zu berücksichtigen: »1970 haben wir geheiratet, und erst im Jahr 1978 bin ich im Buch aufgetaucht«, empört sie sich noch heute. Familiäre Ereignisse fehlten in der ersten Fassung fast gänzlich. Krieg, Gefangenschaft und die Arbeit als Produktionsleiter standen im Mittelpunkt. »Wir haben uns mit Herrn Willenberg zusammen gesetzt und ihm Ergänzungen empfohlen«, berichtet die Aufschreiberin der Lebensgeschichte, »und konnten ihn animieren, noch andere Seiten seiner Biografie aufzuschlagen.« Großvater und Großmutter kamen somit rückblickend ganz neu ins Gespräch - kein alltägliches Thema für die Eheleute.

Pünktlich zum 37.Geburtstag seiner Enkelin drückte er ihr sein Buch in die Hand. 6.000 Mark kostet ihn die eigene Lebensgeschichte. »Manche Großeltern schenken Möbel, bezahlen die Fahrschule oder beteiligen sich am Auto. Ich habe mich für das Buch entschieden«, resümiert Artur Willenberg zufrieden. »Das Geld ist gut angelegt.«

Mittlerweile steht das erzählte Leben nicht nur in seinem Regal, sondern er liest auch öffentlich aus seinem Buch, in kleinen Runden, vor älteren und jüngeren Menschen. Es kommt zum Austausch der Biografien. Geschichtsalltag wird verbreitet, leise und unspektakulär. Und Eva Homa möchte noch ein Buch schreiben, weil so vieles ungesagt blieb.

Medienbüro Katrin Rohnstock, Prenzlauer Allee 217, 10405 Berlin; Tel: 030/42852255

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