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UTERALER BEAT & TIPP-KICK Rudi Thiessen und Konrad Heidkamp blicken zurück auf Musik einer Generation

Ich wäre gern Reinholds Freund gewesen. Er hatte einen DUAL-Plattenspieler, die zweitlängsten Haare im Viertel und unseren Mathematiklehrer zum Frührentner gemacht. Wir waren Rolling-Stones-Fans, unterhielten uns jeden Morgen im Schulbus über die Schallplatten und Skandale von Jagger, Richards und Jones. Reinholds Lieblingsausdruck war: »zu kommerziell«. Beatles, Kinks, Small Faces: zu kommerziell. Billigfutter für Massenmenschen ohne Geschmack und Charakter.

An einem Montag Ende November 1968 ertappte Reinhold mich beim Kauf einer Beach-Boys-Single. »Für meine Schwester«, sagte ich mit mürber Stimme. Reinholds Blick werde ich nie vergessen. Im Schulbus fand er schnell einen neuen Gesprächspartner. Eines Morgens verkündete er laut, die Stones seien zu kommerziell geworden. Er höre nur noch Free Jazz, Albert Ayler und Ornette Coleman.

Reinhold und Rudi Thiessen hätten sich bestimmt prima verstanden.

It's only rock'n roll but I like it - der Stones-Titel, den Thiessen für sein Buch gewählt hat, verspricht einen unverkrampften, ironischen Rückblick auf die wilden Jahre der Rockmusik. Doch Thiessen hat Reinholds verbissenen Ernst, seine Betrachtungen und Analysen sind die eines sauertöpfischen Blues-Akademikers.

Das Buch, vor mehr als zwanzig Jahren geschrieben, ist, schön ausgestattet, wiederveröffentlicht worden. Leider »nahezu unverändert«: viele Studien und Kommentare haben bloß noch dokumentarischen Wert. Nie um ein Fremdwort aus dem Oberseminar verlegen, schlägt Thiessen unverändert tapfer längst geschlagene Schlachten gegen die Stones-Hasser-Väter der APO-Generation.

Der Autor lässt nur solche Musik gelten, die sich der Aufklärung verpflichtet fühlt, der Emanzipation, dem Protest. Alles andere ist für ihn Kinderkram, Retortenzeug, Kaufhausmuzak. Seine Helden sind die Stones und Who, Bob Dylan und Ray Charles. Deren Songs seien »zu sperrig« für den Werbefunk, lobt Rudi Thiessen anno 1977. Heute, wo sich alle Genannten längst und mehrfach für Reklamejingles hergegeben haben, Dylan Spitzenpositionen in den Golden-Oldie-Hitparaden der Persil-Sender belegt und keine Immobilienmakler-Party ohne »Satisfaction« und »My Generation« auskommt, wirken solche Einschätzungen ziemlich verrostet, wenn auch in ihrer überraschenden Naivität nicht unsympathisch. Zu sperrig für die Gute-Laune-Wellen, 1977 wie 1999, sind beispielsweise die Platten der Punk-Revolte, doch die haben kein Gehör beim Autor gefunden.

Thiessens »Versuche«, die sich eingehend mit Adornos Jazz-Kritik, Pete Townshends Tommy, dem Waren- und Fetischcharakter von Kunst und britischem Rhythm Blues beschäftigen, zeugen von einem intensiven Hochschulstudium und hochgradiger Humorlosigkeit. Fast durchgängig hat Thiessen mich mit Proben seiner blendenden humanistischen Allgemeinbildung und stilistischen Verrenkungen folgender Art gequält: »Die Bluesadaption im Rock geht über die Übersetzung des Zugleich von Eros und Zurichtung im Blues in das Bündnis von uteralem Beat und an seinem eigenen Puritanismus irre gewordenem Bewußtsein.« Thiessen, kein Freund falscher Bescheidenheit, beeindruckt auch immer wieder mit seinem fabelhaft funktionierenden Namensgedächtnis: »Phil Haddock und ich ergänzen Freuds durch Klaus Heinrich interpretierte These vom redenden Trieb durch die vom listigen.«

Erstickt Thiessen jedes Gefühl und Interesse ausnahmsweise einmal nicht mit Tonnen von professoralen Affektiertheiten und Angebereien, wird's lesenswert: er leistet sich einen - witzigen - Exkurs über linkische (Tanz-)Bewegungen; seine Thesen zu den die Entwicklung moderner Musik vorantreibenden Dilettanten sowie zur Aneignung schwarzer Musik durch junge Weiße Mitte der Sechziger sind einleuchtend und immer noch aktuell; seine Interpretation einiger Ray Charles-Songs ist brillant.

Ray Charles ist es auch zu verdanken, dass Rudi Thiessen, der den Untersuchungsgegenstand Rock mit Vorliebe seziert wie ein Biologe den Froschschenkel, sich endlich zum Zusammenhang von Musik und Sinnlichkeit äußert. Den hat er am eigenen Leibe erfahren, vor ungefähr vierzig Jahren. Dramatisches spielte sich im Hause Thiessen ab, als Rudi, »ein kleiner Junge und leichter erregbar als heute«, zum ersten Mal den Ray-Charles-Song »What'D I Say« hörte: »Mir wurde flau im Magen, und mir schossen Tränen in die Augen.«

Ungefähr zur gleichen Zeit spielt Konrad Heidkamp mit einem Freund die Oberliga Süd und die Juskowiak-WM 1958 in Schweden nach, Tipp-Kick, die Stürmerfüße der Metallfiguren sind unterschiedlich zugefeilt, es gibt Spezialisten für raffinierte Heber, knallharte Flachschüsse. Auf dem Plattenteller drehen sich abwechselnd Elvis und Chet Baker, die zeigen einem zweieinhalb Minuten lang, wo's langgeht. Es ist die Blütezeit der Singles, auch Jazzmusiker wie Sonny Rollins sind sich nicht zu schade, Stücke für die von Reinhold und der progressiven Pink-Floyd-Herde später so verachteten 45er aufzunehmen.

Nach 22 Uhr, wenn Deutschland den WM-Titel von 1954 doch noch verteidigt hat und die Offenbacher Kickers (hoffe ich jedenfalls) Südmeister geworden sind, sitzt der Tipp-Kick-Spieler auf dem Adenauer-Sofa neben der schlagerseligen Musiktruhe und hört angespannt den amerikanischen Soldatensendern zu, die Monk und Miles spielen, leiser als zimmerlaut, um die Eltern nicht aufzuwecken. Kuckucksuhr, Blümchentapete, unter dem Teppich Spuren von Brandbomben aus den letzten Tagen der braunen Zeit, doch sobald die Jungs aus Brooklyn, Chicago und L.A. loslegen, verwandelt sich das gewienerte gute Zimmer ins Birdland, Minton's oder den Village Vanguard Club.

It's all over now heißt Konrad Heidkamps Buch über Rock und Jazz der vergangenen 40 Jahre, über das langsame Sterben Chet Bakers, Cecil Taylors Socken und die unnötige Wiedervereinigung der Sex Pistols, über leere Whiskey-Flaschen und Heroin-Nadeln hinter der Bühne, Stammheim und Stadionrock. HipHop, der melonensüße Popsommer von 1982 und Joe Henderson kommen nicht vor, Nervensägen wie Janis Joplin und Genesis bleiben uns erspart. Ohne den geringsten Anspruch auf lexikalische Vollständigkeit stellt Heidkamp in 19 Kapiteln Musiker vor, die für ihn von Bedeutung waren und sind. Der Gefahr, Ringo Starrs traurige Krankenhauskindheit, den Clapton-is-God-Wahn und Velvet Undergrounds Drogengeschichten zum hunderttausendsten Mal nachzuerzählen, entgeht er, indem er nicht buchhalterisch Hits, Groupies und Ehescheidungen aufzählt, sondern sich auf wenige, sehr atmosphärische Episoden beschränkt, die er kunstvoll mit zeitgeschichtlichen Ereignissen und Selbsterlebtem verknüpft.

Mitte der sechziger Jahre ist Chet Baker auf Tournee durch süddeutsche Jazz-Keller. Er wird begleitet von der jeweiligen Hausband, lokale, selbstgefällige Größen, die mit krachendem Schlagzeug und überlangen Gitarrensoli die melancholischen Songs des Trompeters misshandeln, zerstören. Dazu das bierselige, fingerschnippende Publikum! Chet Baker spielt kurze Soli, betrachtet ansonsten traurig seine Sandalen. Der junge Heidkamp hat Angst um sein Idol, er will es mit Zwischenrufen in Schutz nehmen vor soviel Ignoranz. »Chet Baker sah mich vernichtend an, unterbrach das Stück und fragte über das Mikrofon, ob ich ein Problem hätte. Mit knallrotem Kopf murmelte ich etwas vom Gitarristen. Er nickte, meinte, das sei wirklich mein Problem, und der Gitarrist setzte wieder ein.« »Tief gerührt und gepackt« von der Musik, mehr als von jedem Film oder Buch, wird sich Heidkamp trotz dieser öffentlichen Zurechtweisung weiter Sorgen um den drogensüchtigen Chet machen, bis zu dessen Tod im Mai 1988.

Rudi Thiessen liegt ja nicht falsch, wenn er den Zusammenhang zwischen Jazz, Rock und, wie auch immer geartetem, Protest betont und immer wieder fordert. Für Konrad Heidkamp machen aber noch andere, wissenschaftlich nicht so leicht zu erforschende Dinge die Seele der Musik aus. Knisternde, verrauschte Aufnahmen eines Charlie-Parker-Konzerts, jeder Hi-Tech-CD überlegen. Songs, die ein ganzes Leben verändern können, die einem die Kraft geben, »alles für möglich zu halten«. »Musik ist immer Stil«, sagt Miles Davis. Warum rochen Decca-Platten anders als die von Polydor? John Lennons ironisches Lächeln. Das »Gefühl der Unverletzlichkeit« beim Hören von John Coltrane. Das unerreichbar ferne Mädchen von gegenüber, dem man bei weit offenem Fenster Exile on Main Street vorspielt. Euphorie, Lebensfreude: »Wer die Beatles wirklich liebte, konnte es später nicht lange ernsthaft im Seminarraum einer K-Gruppe aushalten.«

Wenn Heidkamp biografische Details völlig unterschiedlicher Menschen wie der schwarzen Sängerin Nina Simone und der lange zwischen Sylt und APO pendelnden Journalistin Ulrike Meinhof parallel erzählt und stellenweise miteinander verknüpft, dann macht er das verdammt Schwierige einfach (ich wollte das Wort eigentlich nie mehr benutzen) atemberaubend gut. Grenzen zwischen sogenanntem Sachbuch und literarischem Werk sind nicht mehr zu erkennen.

It's all over now: Das mit zahlreichen seltenen Fotos und Texten von Schriftstellern und Musikern versehene Buch von Konrad Heidkamp ist für mich das schönste über (mehr oder minder) populäre Musik seit Nik Cohns dreißig Jahre altem Evergreen AWopBopaLooBop ALopBamBoom.

Rudi Thiessen: It's only rock 'n' roll but I like it. Kult und Mythos einer Protestbewegung. Verlag Vorwerk 8, Berlin 1998, 248 S., 48,- DM

Konrad Heidkamp: It's all over now. Musik einer Generation - 40 Jahre Rock und Jazz. Alexander Fest Verlag, Berlin 1999, 312 S., 49,80 DM

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