Ein nettes, mörderisches Land

HÄKELDECKCHEN-GESELLSCHAFT Über Hugo Claus' Belgien-Roman "Unvollendete Vergangenheit"

Drei Mädchen sind spurlos verschwunden, und Noel, den alle in der flämischen Kleinstadt für einen gutmütigen, auf den Kopf gefallenen Trottel halten, wittert Ungeheuerliches. Der Lagerist in einer Buch- und Schreibwarenhandlung verdächtigt einen verhassten Arbeitskollegen, ein Kinderschänder zu sein. Der maso-christisch unterwürfige Jazzliebhaber Noel nimmt nach einigem Zögern den Fall in die Hand, und zwar mit aller Gewalt. Er, eigentlich "zu gut für diese Welt", schlachtet den Verdächtigen ab, zerlegt ihn in handliche Einzelteile.

Im Verhör durch einen alten, geduldigen Kommissar wird ganz allmählich deutlich, dass der hochneurotische Noel keinen Vergleich mit Hitchcocks Psycho-Helden Norman Bates zu scheuen braucht. Gleichzeitig kommt aber auch eine Häkeldeckchen-Gesellschaft voller Heimtücke und Heuchelei ans Tageslicht. Erbschleichende Notare, in Ehren ergraute Kolonialkämpfer, die sich ihrer Massaker-Toten im Kongo rühmen. Die Anständigen, die nach dem Kirchgang einen Puffbesuch einlegen. Die Stützen der Gesellschaft: Gutsherren über Leben und Tod. Belgien, das gemütliche Land der hochprozentigen Biere, hühnereigroßen Pralinen, beleuchteten Autobahnen und des niedlichen Manneken Pis scheint die Ständige Vertretung Siziliens in Westeuropa zu sein.

Hugo Claus, 1929 in Brügge geboren und nach Meinung von Experten seit Jahren vom Nobelpreis bedroht, hat immer schon gern heiße Eisen angefasst, meist ohne Schutzhandschuhe. Das Still- und Totschweigen, die brutale Spießigkeit einer scheinbar liberalen Gesellschaft; die Gründe für den Hass im Halbbruderstreit zwischen frankophonen Wallonen und niederländischsprachigen Flamen, die Kollaboration mit der faschistischen Besatzungsmacht Deutschland während des Zweiten Weltkriegs sind Themen seiner Romane, von denen vor allem Der Kummer von Flandern bei uns bekannt geworden ist.

Hugo Claus, Vorbild und Mutmacher für zahlreiche junge Autoren in Belgien, hat fast überall auf der Welt gelebt und gearbeitet, ist aber nie von seinem schwierigen Heimatland losgekommen. Das künstlerische Kraftpaket Claus ist nicht nur ein bedeutender Romancier, sondern auch als Lyriker, Dramatiker, Film- und Theaterregisseur hervorgetreten und hat auch Anerkennung als neo-expressionistischer Maler gefunden. In seinem neuen Roman Unvollendete Vergangenheit hat er die Farbe stellenweise etwas dick aufgetragen.

Die Geschichte von Noels Wahn und das Psychogramm einer Kleinstadt sind beeindruckend erzählt. Claus schöpft alle Möglichkeiten des modernen Thrillers aus: Die sich sogartig steigernde Spannung, das jähe Umschlagen von Kammerspiel zu Schlachthausszenen, in denen sich Poesie und B-Film-ab-achtzehn-Szenen auf verblüffende Weise mischen. Bei allem Schrecken vergisst Claus aber auch den Humor, das Augenzwinkern nicht, und schon gar nicht das Atmosphärische: die verqualmte Notarskanzlei, der Bohnerwachsgeruch in der Kneipe nebenan, das Saxophon von John Coltrane an einem flämischen Regentag, der Duft verwahrloster Krankenzimmerblumen, das katholische Simenon-Belgien der Puffs mit kulanten Serviceleistungen außer Haus.

Leider hat der streitlustige Autor dem Roman ein paar politische und zwischenmenschliche Konflikte zuviel aufgebürdet. Immer wieder tauchen algerische Fundamentalisten in blutroten Ferraris auf, zwecks Abwicklung dunkler Geldgeschäfte und Schlimmerem, und dann dichtet der Autor dem Serienmörder Noel auch noch einen Inzest à la Homo Faber an. Das ist mir, bei aller Liebe, ein wenig zuviel des Schlechten in einem sonst sehr lesenswerten Buch.

Hugo Claus: Unvollendete Vergangenheit. Roman. Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert. Klett-Cotta, Stuttgart 2001. 175 S., 20,- DM

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