Die Wählerinnen und Wähler waren zu den Wahlurnen gerufen, einige kamen brav und ebenso brav gingen sie wieder, viele blieben einfach weg. Die Landtagswahlen in Brandenburg, im Saarland und in Thüringen und die Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen dokumentieren, dass gegenwärtig politische Kräfteverhältnisse einem raschen Wandel unterliegen. Im Ergebnis gab es an der Saar einen Regierungswechsel, die zuvor regierende SPD verlor ihre Mehrheit an die CDU. In Brandenburg blieb die SPD zwar die stärkste Partei, aber sie wurde so stark gerupft, dass sie nicht mehr allein regieren kann. In Thüringen gewann die CDU die absolute Mehrheit, die bisher mitregierenden Sozialdemokraten mussten einen Einbruch erleben, sie rutschten gar auf Rang drei hinter die PDS. In Nordrhein-Westfalen müssen machtgewohnte SPD-Oberbürgermeister und -Landräte ihre Sessel räumen, fast überall schlug das Kräfteverhältnis um zu Gunsten der CDU. Alles in Ordnung, könnte man denken: Die Demokratie lebt vom Wechsel, im Wettbewerb um die politischen Programme und Konzepte entscheidet der Souverän, das Wahlvolk.
Nichts ist in Ordnung. Vor anderthalb Jahren sah alles noch ganz anders aus. Nahezu überall verlor die damalige Kanzlerpartei an Positionen. Nach sechzehn Jahren Kohl-Regierung wollte eine Mehrheit der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger angesichts von Stagnation und sozial ungerechter Steuer- und Sparpolitik einen Wechsel. Die Wahlergebnisse vom September 1998 ermöglichten die Regierungskoalition von SPD und Grünen. Hat es sich »der Wähler« nun anders überlegt und möchte doch die alte Regierung wieder zurück? Oder hat »der Wähler« die Wohltaten der neuen Regierung nur noch nicht verstanden? Oder wird der Wahlschein zum Denkzettel für ungenügendes Einlösen von Wahlversprechen? Alle diese gängigen Erklärungsmuster greifen zu kurz, sie erweisen sich als hohle Floskeln.
»Der Wähler« ist kein homogenes Subjekt, das sich »seine Entscheidung« rational überlegt und sich einmal so und einmal anders entscheidet. Von den reichlich 80 Millionen Menschen, die in der Bundesrepublik Deutschland leben, sind rund 60 Millionen wahlberechtigt. Sie leben in sehr unterschiedlichen sozialen Lagen, sie haben unterschiedliche Ansprüche an ihr Leben in der Gemeinschaft, sie haben unterschiedliche Lebenspläne und Werte. Auch der Raum der öffentlichen Meinung ist strukturiert, in ihm wird definiert, was modern ist und was alt, was als nützlich gilt und was als schädlich. In den gegensätzlichen Ergebnissen der aufeinanderfolgenden Wahlen der letzten achtzehn Monate liegt ein gesellschaftspolitischer Vorgang, wie ihn die alte Bundesrepublik in ihrer Geschichte bisher nicht kannte. Nie zuvor waren die Anteile der Nichtwähler und der Wechselwähler so groß, wie gegenwärtig. Der Anteil der Stammwähler ist gewaltig geschrumpft. Auch die Erfolge der CDU sind keine echten Zugewinne an Wählerstimmen, ihre Wählerinnen und Wähler sehen gegenwärtig nur weniger Gründe, den Wahlen fernzubleiben als sie die der SPD, der Grünen und der FDP offensichtlich haben. Nur die PDS scheint davon ausgenommen, in Ostdeutschland kann sie ihre Positionen stabilisieren und ausbauen, und die in Nordrhein-Westfalen erreichten Mandate in Rathäusern und Kreistagen deuten auf eine allmählich zunehmende Akzeptanz im Westen hin.
Im Deutschland von heute gibt es eine »frei schwebende« Mehrheit. Es mag verführerisch sein, dies mit der Formel von Individualisierung in der modernen Gesellschaft ideologisch einzufangen, um es als leicht veränderte Normalität abbuchen zu können. Der Vorgang ist aber vielmehr zu deuten als Destabilisierung der politischen Strukturen, als Entflechtung von parteipolitischen Strukturen einerseits, von Grundströmungen politischer Ansichten und gesellschaftlicher Erfahrungen eines großen Teils des Wahlvolkes andererseits.
Die Kommunikation zwischen den politischen Eliten der traditionellen Parteien der Bundesrepublik und ihrem jeweiligen Umfeld ist gestört. Auf dem Weg, »Volksparteien« zu sein, zu werden, zu bleiben, haben sie ihre soziale Verankerung verloren, über die Anbetung des Götzen Wirtschaft hinaus ist kein Interessenbezug erkennbar. Die Parteien drängeln sich in der Mitte der Gesellschaft und übersehen dabei, dass infolge ihrer eigenen Politik die bisher stabilisierende breite Mitte abschmilzt. Der Trend geht zur Polarisierung. Die Umbaupraxis beider heute hegemoniefähiger Varianten von Politik kollidiert mit den Erwartungen der Polarisierungsopfer. Was sich selbst als »Mut zu unpopulären Maßnahmen« feiert, ist nichts anderes als eine ungeheure Arroganz der Macht. Wer meint, sich zwischen den Wahlen über Meinungen und Vorstellungen von Mehrheiten ebenso hinwegsetzen zu können wie über vorherige Versprechungen, der setzt auf Dauer nicht nur Vertrauen aufs Spiel, der produziert Sprachlosigkeit und Entfremdung und damit auch den Verlust eigener Lern- und Anpassungsfähigkeit. Das Ergebnis ist ein schneller Verschleiß politischer Programme und Verheißungen. Die Warenförmigkeit von Politik überholt sich selbst, Politik wird zur schnell verderblichen Ware, zur Wegwerf-Politik.
Das Bild stimmt nicht, das die traditionelle politische Elite in ihrem permanenten und scheinbar nicht aufzuhebenden Drang zur Selbstbeweihräucherung in ihren Sonntagsreden von der Gesellschaft der Bundesrepublik zeichnet. Ein Umbau der (partei)politischen Strukturen der Gesellschaft der Bundesrepublik ist im Gange. Nicht nur die FDP und die Grünen sind eifrig dabei, an ihrer eigenen Überflüssigkeit zu arbeiten und in den Wettbewerb um die eine überlebensfähige liberale Partei abzutauchen. Indem die SPD neoliberale Umbaupolitik im Kern fortführt und allenfalls ein paar Schönheitspflästerchen beigibt, arbeitet sie in Ostdeutschland an ihrem Weg in die Drittklassigkeit. Die politische Struktur tendiert hier zum einen dazu, sich an die wesentlichen Konfliktlinien anzunähern und sich auf den politischen Gegensatz von (westlicher und bürgerlicher) CDU und (östlicher und emanzipatorischer) PDS zu reduzieren. Zum anderen ist gegenwärtig vieles offen.
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