Der Grimme-Preis gilt als der wichtigste deutsche Fernsehpreis. Das schreiben die Kritiker gerne. Das müssen sie auch, denn sie stellen das Gros der Juroren in Vorauswahl- und Hauptjurys. Dennoch ist an der Aussage etwas Wahres dran. Denn das Verfahren selbst garantiert eine gewisse Kontrolle. Jeder Zuschauer kann mit einfachem Schreiben an das ausrichtende Grimme-Institut Sendungen des jeweiligen Jahres vorschlagen. Und natürlich auch jeder Redakteur, Moderator, Regisseur, Abteilungsleiter und Intendant; manche bemühen allerdings für dieses Verfahren gerne die Verwandtschaft oder Untergebene, wenn sie die eigenen Werke als preiswürdig annoncieren.
Aus der Fülle dieser Einreichungen wählen dann Vorauswahljurys die Nominierungen aus. Das ist ein harter Job, da man in die meisten Sendungen aus Zeitgründen nur für wenige Minuten hineinschauen kann. Wer da keine Programmkenntnis hat, hat schlechte Karten. Und das kommt nicht so selten vor. Denn in den Jurys erlebt man nicht selten, dass einige Kritiker kaum die täglichen Fernsehprogramme kennen, in ihrer Arbeit stützen sie sich auf die Ansichts-DVDs und -Kassetten der Sender. Solche Kritiker sind das erste Manko des Grimme-Verfahrens. Noch schlechter sind nur die Sendungen dran, die keiner der Juroren zuvor gesehen hat. Sie müssen in den ersten Minuten beeindrucken, um noch nominiert zu werden. Tatsächlich liegt hier das zweite Manko. Denn es sind eher die reißerischen als die leisen, eher die angeblich politischen denn die ästhetisch konsequenten Filme, die in Kenntnis gerade einmal der ersten Minuten nominiert werden.
Die nominierten Sendungen werden dann den Hauptjurys präsentiert. In diesem Jahr gruppierten sich die Jurys um die Themenfelder Fiktion (Einteiler, Mehrteiler, Reihen, Serien), Information und Kultur (zumeist Dokumentation und Dokumentarfilme) sowie Unterhaltung (Shows, Comedy, auch komödiantischer Serien). Sie sehen in einer knappen Woche die nominierten Sendungen. Das ist schon ein harter Knochenjob. Zum einen, weil man von morgens bis abends auf die Bildschirme starren und selbst noch in der kargen Freizeit über das Gesehene reden muss. Zum anderen weil sich bestimmte Themen dergestalt häufen, dass man ihrer leicht überdrüssig werden kann; dann wird der vierte oder fünfte Film zu den Katastrophen der Welt weniger genau wahrgenommen als der erste. Das kann einem auch mit Schauspielern so gehen, die einem gerade noch als fast genial erschienen, ehe sie dann in einem anderen Film eine schwache Leistung abliefern, die prompt die Erinnerung an die erste abschwächt.
In diesem Jahr gab es zum ersten Mal eine Jury, die sich ausschließlich mit der Fernsehunterhaltung beschäftigte. Der Grimme-Preis, einst von der Volkshochschule Marl gegründet und deshalb mit Bildungsidealen identifiziert, tat sich lange schwer mit diesem Programmsegment. Man mischte seine Sendungen unter die der Fiktion mit der Folge, dass viele gute Unterhaltungsshows zu Gunsten herausragender Fernsehfilme mit gewichtigen Inhalten nie einen Grimme-Preis bekamen. Die neuformierte Jury musste sich durch vierzehn Sendungen sehen - vom Kinderprogramm über die Personalityshow bis zur großen Samstagabendunterhaltung. Nun ist nichts absurder, als an einem grauen Februarmorgen bei Kaffee und Schnittchen sich eine Show zu Gemüte zu führen. Denn das, was einem an einem Samstagabend - auch mangels Alternativen - als familiäres Vergnügen erschien, verliert in der morgendlichen Wiederholung unter den geschilderten kargen Bedingungen und unter den kritischen Augen der Kollegen rasch an Charme und Witz. Keiner gesteht gerne ein, gelegentlich mal unter seinem Niveau gelacht zu haben.
Um so verwunderlicher und erfreulicher ist es also, dass die Jury mit Extreme Activity eine Show auszeichnete, die tatsächlich vergnüglich ist, auch wenn sie das Unterhaltungsrad nicht neu erfindet, statt dessen die übliche Fernsehprominenz in ebenso absurde wie nette Aufgaben verwickelt. Jürgen von der Lippe hat endlich in dieser Sendung von Sat1 eine Aufgabe gefunden, die seinem Charme eines Ferienanimateurs absolut gerecht wird. Wenn er sich über die missglückten Darstellungen seiner mehr oder minder bekannten Gäste wegschüttet, ist der rundliche Mann mit den weiten und bunten Hemden absolut bei sich. Ebenso akzeptabel die zweite Auszeichnung der Jury für die Serie Türkisch für Anfänger, die das Vorabendprogramm der ARD im letzten Jahr gut aufgemöbelt hatte.
Die Jury Fiktion sorgte zu Beginn ihrer Sitzung für einiges Aufsehen, nominierte sie doch nachträglich mit Dresden den aufwändigen Zweiteiler, den die Vorauswahljury bewusst nicht weitergereicht hatte. Jede Hauptjury hat das Recht, bis zu drei Sendungen, die sie von der Vorauswahl übersehen glaubt, nachzunominieren. Oft zum eigenen Nachteil. So musste sich diese Jury also nicht nur durch 20 Fernsehfilme kämpfen, sondern auch noch durch zweimal 90 Minuten Dresden. Zu einem Grimme-Preis reichte es für die von Nico Hoffmann produzierte Brandoper um die Bombardierung der Stadt nicht. Statt dessen wurde mit Wut der Fernsehfilm ausgezeichnet, der in der ARD im letzten Jahr einen handfesten Skandal ausgelöst hatte, als ihn die Intendanten vom vorgesehenen Termin um 20.15 Uhr in den späten Abend verbannten. Als Themenstück ist der Film vielleicht überschätzt, als Sozialstudie zudem zu ungenau, aber als Thriller funktionierte er wie kaum ein anderer im letzten Jahr.
Da in Wut die Assimilation nicht ganz so gut hinhaut, pries die Jury mit Meine verrückte türkische Hochzeit eine Komödie von Pro Sieben, in der am Ende das Zusammenleben dann doch irgendwie und lustig klappt. Obligatorisch der Grimme-Preis an Dominik Graf, der mit Er sollte tot den besten Film aus der Reihe Polizeiruf 110 im letzten Jahr vorgelegt hatte. Mit Aelrun Goette, die eine eindrückliche Filmstudie einer Kindstötung vorlegte (Unter dem Eis), und Thomas Durchschlag, dessen Erstling Allein ein Förderstipendium erhielt, wurden auch zwei jüngere Filmregisseure ausgezeichnet. Ein Überraschungspreis ging an Arnies Welt vom WDR, eine liebevolle und zugleich hintergründige Dorfgeschichte von Isabell Kleefeld.
Wie groß die Bandbreite des Grimme-Preises ist, demonstrierte die dritte Jury "Information und Kultur". Sie zeichnete den erfolgreichsten Dokumentarfilm des Jahres Deutschland - Ein Sommermärchen von Sönke Wortmann ebenso aus wie Beiträge des Magazins Monitor (beide WDR), die sich mit dem Lobbyismus in Bundesministerien beschäftigten. Und sie priesen mit Weiße Raben von Johann "Friedo" Feindt und Tamara Trampe einen herausragenden Dokumentarfilm, der vor anderthalb Jahren im Kino kaum Zuschauer fand und der im letzten Jahr auf Arte zu sehen war. Weitere Preise gingen an Deutsche Lebensläufe: Fritz Lang und an die Reihe Stellmichein! von Katrin Rothe.
Natürlich kann man über manche Entscheidung erstaunt sein oder sich über ignorierte Sendungen ärgern, aber in der Summe lag man in diesem Jahr in Marl so falsch nicht. Wenn man so will, hat sich die Juryarbeit also gelohnt. Der Autor kann das guten Gewissens sagen, da ihn eine Krankheit an der Juryarbeit und damit Mitverantwortung hinderte.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.