Um die Geschichte des Fernsehens ist es in Deutschland nicht gut bestellt. Gemeint ist damit nicht die wissenschaftliche Aufarbeitung. Mit Knut Hickethiers Geschichte des deutschen Fernsehens, die unter Mitarbeit von Peter Hoff entstand, liegt seit 1998 ein Standardwerk vor, das neben der Entwicklung der Institutionen auch das Programm historisch einordnet. Aber wer mit Hickethiers Buch in der Hand die Programmgeschichte nachvollziehen will, scheitert schnell. Die wichtigsten Dokumentarfilme, Fernsehspiele, Gesprächssendungen sind nur im Ausnahmefall - wie bei den Interviews, die Günter Gaus für das ZDF und den damaligen SWF führte - als DVD-Editionen verfügbar. Die Sender selbst wiederholen das, was man als ihre Programmschätze bezeichnen könnte, nicht oder nur sehr selten. Sie verharren in einem merkwürdigen Wahn der Aktualität, nach dem beispielsweise ein Schwarz-Weiß-Film, eine langsame Schnittfolge oder gar ein geduldig vorgetragener, komplizierter Gedanke automatisch die Zuschauer abschreckte. Und selbst die Spartenkanäle Phoenix oder 3sat zeigen lieber das Aktuelle von gestern statt das Historische, das 10, 20 Jahre alt ist.
Als Repertoire gilt gerade, was zwanghaft wiederholt wird wie das alljährliche Dinner for One zu Silvester oder einzelne Folgen von Ein Herz und eine Seele zu Weihnachten, zum Karneval oder zur Wiedervereinigung. In der in Berlin am Potsdamer Platz angesiedelten Deutschen Kinemathek, in der das Projekt eines Museums für Fernsehen aufgegangen ist, kann man immerhin mittlerweile gut 1.000 Programmstunden der Fernsehgeschichte studieren. Aber es war und ist für die Initiatoren und Kuratoren unglaublich schwer, die Sender und Produzenten davon zu überzeugen, dass ein solches Museum eine gesellschaftlich wie kulturell bedeutsame Arbeit leistet. Eine komplizierte Rechtslage, zu der sich unterschiedliche Urheber- und Nutzungsrechte der Filme und Sendungen verknoten, sowie kommerzielle Absichten, die durch das Interesse an den Beständen des Programmarchivs geweckt wurden und werden, erschweren die Arbeit der Kinemathek.
Dass es auch anders geht, demonstriert das Institut National de l´Audiovisuel (INA) in Paris. Die staatliche Einrichtung ist die Sammelstelle für jene Pflichtabgabe, die alle Fernsehsender, ob öffentlich-rechtlich oder privat-kommerziell, entrichten müssen. Von jeder Fernsehsendung in Frankreich geht automatisch eine Kopie an das INA. Eine solche Pflichtabgabe existiert in Deutschland nur für Bücher und Zeitschriften, die an die Deutsche Nationalbibliothek weitergeleitet werden müssen. Selbst für Kinofilme gab es sie in der (westdeutschen) Vergangenheit nicht, so dass die Geschichte des Jungen Deutschen Films heute nicht mehr lückenlos präsentiert werden könnte.
Wie das INA mit seinen Programmschätzen umgeht, illustriert ein Blick auf seine Internetseiten. Dort hat das Institut unter der Adresse (www.mai68.ina.fr) aktuell historische Fernsehsendungen rund um den Mai 1968 ins Netz gestellt. Mehr als 80 Programmstunden können nach unterschiedlichen Begriffen, Schlagworten und Personen- und Ortsnamen aufgerufen werden. Täglich wurde im Mai jeweils ein Film präsentiert, der ein exakt 40 Jahre zurückliegendes Ereignis dokumentierte. Sie waren und sind wie alle anderen Archivalien frei zugänglich. So kann, wer sich über die Ereignisse in Berlin zu Ostern 1968 selbst ein Bild machen will, hier durch die damaligen Berichte des französisches Fernsehen Information finden. (Das französische Fernsehen berichtete über die Demonstrationen in Deutschland nach dem Attentat auf Rudi Dutschke ausführlich, während es in Folge der staatlichen Zensur die Unruhen in Paris in den ersten Tagen verschwieg.)
Es ist nicht zu leugnen, dass sich im Internet längst eine Art Subgeschichtsschreibung des Fernsehens ausgebildet hat. Vor allem bei Youtube oder MyVideo sind viele Schnipsel von historischen Momenten des deutschen Fernsehens abgespeichert. Ob man nun nach der Talkshow sucht, in der Nina Hagen einst Anleitungen zur klitoralen Stimulation von Frauen verriet, oder nach jener, in der Fritz Teufel den SPD-Politiker Matthöfer mit einer Wasserpistole attackierte, oder vielleicht nach einer dritten, in der Angela Merkel mit der Schriftstellerin Karin Struck so aneinander geriet, dass letztere unter Protest und Gläserwerfen die Sendung verließ - man findet all diese Szenen.
Eine Skandalgeschichte des Fernsehens ließe sich so leidlich zusammenstellen, stammten diese Szenen nicht zu einem Teil aus Sekundärquellen. Der Kontext der jeweiligen Sendung, ihr Stimmungsverlauf, ihre Dramaturgie erschließt sich nicht. Wie bei einem Pornofilm reiht sich in diesen Ausschnitten gleichsam Höhepunkt an Höhepunkt. Dennoch vermitteln die ins Netz gestellten Ausschnitte die Idee eines Fernseharchivs, das für alle frei zugänglich wäre. Erst nach dessen Einrichtung könnte man von der Präsenz der deutschen Fernsehgeschichte sprechen.
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