Alles sehen, wenig wissen

Medientagebuch Der Atem der Geschichte live im Fernsehen - diesmal: Staatsstreich in Georgien

Ob es live auf n-tv, N 24, CNN oder BBC International am 22. November zu sehen war, ist zu bezweifeln. Aber später wurde es regelmäßig eingespielt, als die Nachrichtensender längst die Fernsehsignale aus Georgien übernahmen und CNN ihm sogar bereits eigene (allerdings datenreduzierte) Live-Aufnahmen zur Seite stellte. Das sensationelle Bild, das man - wie gesagt - in Deutschland vermutlich nicht live sah, zeigt das holzvertäfelte Parlament in Tiflis in einer Aufsicht. Rechts ist das Rednerpult zu sehen, an dem der georgische Staatspräsident spricht. Links befindet sich die Eingangstür. Dazwischen liegen die Sitzplätze der Parlamentarier. Auf den Tischchen vor ihnen liegt viel Papier, so als würden viele Parlamentarier während der Rede des Staatspräsidenten lieber lesen und arbeiten, statt ihm zuzuhören. Doch die Rede ist zum Zeitpunkt der Aufnahme dieses Bildes bereits unterbrochen.

An der Tür steht ein Mann, umringt von Gleichgesinnten, der in Richtung des Rednerpultes seine Stimme erhebt. Dann drängen hinter ihm Demonstranten in den Saal. Einer von ihnen trägt eine Art Strauß von Trockenblumen. In einer näheren Einstellung ist nun zu sehen, was sich in diesem Augenblick am Rednerpult ereignet. Der weißhaarige Staatspräsident, den man in Deutschland von einem alten Gruppenbild mit Genscher und Gorbatschow her kennt und der damals, Ende der achtziger Jahre, einen soignierten Eindruck hinterließ, wird von bulligen, in schwarze Lederjacken gehüllten Sicherheitskräften (nur echt mit dem Knopf im Ohr) weggedrängt. Man sieht, dass Eduard Schewardnadse die Situation noch nicht begriffen hat. Ein ungläubiges Staunen steht auf seinem Gesicht, während ihn seine Sicherheitsmänner entschlossen aus dem Saal schieben. Das Redemanuskript hält er noch in seinen Händen, als sei es ihm wichtig, oder als müsse er sich an ihm festhalten.

Kurze Zeit später ist der Plenarsaal von Demonstranten besetzt. Die Parlamentarier kann man in der Aufsicht nicht mehr ausmachen; sie sind entweder geflohen oder haben sich unter die Demonstranten gemischt. Diese jubeln in Richtung Kamera, sie winken und sie juchzen. Immer dann, wenn einer ansetzt, Papier in die Luft zu werfen, einen Stuhl zu besteigen oder gar etwas zu demolieren, wird er von seinen Mitstreitern zur Ruhe gerufen. Auch vor dem Parlamentsgebäude bleibt es friedlich. Die viele Tausende umfassende Menschenmenge demonstriert ruhig und gelassen für einen Rücktritt von Schewardnadse, dem Wahlbetrug vorgeworfen wird. Polizei und Miliz halten sich zurück. Sie beäugen das Geschehen statt einzugreifen. Erst diese Zurückhaltung, das wird nun klar, hat den Angriff der Demonstranten auf das Parlament ermöglicht. Wenig später ist zu sehen, wie Schewardnadse mit einer großen schwarzen Limousine, gefolgt von einem gepanzerten schwarzen Jeep mit quietschenden Reifen die Gegend um das Parlament verlässt. Er flieht, und die Bilder dieser Flucht wird er mit der Pressekonferenz, die er am Abend dem zu diesem Zeitpunkt noch staatstreuen Fernsehen gibt, nicht verwischen. So nimmt keiner die Appelle und Drohungen seines Fernsehauftritts ernst. Sein Rücktritt ist nur noch eine Frage der Zeit.

Die Bilder sind evident: Was geschieht, ist eindeutig und unmissverständlich. Ein Staatspräsident wird vor den mit der Welt verschalteten Kameras gestürzt. Ohne Gewalt. Allein mit den Mitteln des Protestes und der Demonstration. Gleichzeitig erinnern diese Bilder an vergangene. An die aus Prag oder aus Budapest des Jahres 1989, und vielleicht, mit den Aufnahmen von glücklichen Gesichtern nach der Information vom Rücktritt des Staatspräsidenten am 23. November, an die Bilder kurz nach der Maueröffnung in Ost-Berlin. Das bringt die überforderten deutschen Live-Kommentatoren der Fernsehbilder aus Tiflis dazu, strapazierte Begriffen wie "samtene Revolution" zu benutzen. Auch den Reportern, die am nächsten Tag gen Tiflis eilen, um sich in das historische Bild selbst zu stellen und um dort ihre Aufsager für die Nachrichtensendungen zu produzieren, fehlen noch die richtigen Worte. Statt dessen spekulieren sie, wo Schewardnadse abgeblieben sei.

Eine spezifische Deutung der Ereignisse in Tiflis steht noch aus. Es scheint klar, dass der Sturz des Präsidenten allein nicht hinreicht, um andere gesellschaftliche Verhältnisse zu schaffen. Und die Zuschauer in Deutschland ahnen, dass ihr bereits im Laufe des nächsten Tages abflachendes Interesse an Georgien weniger auf den politischen Vorgang als auf seine mediale Repräsentation gerichtet war. Es war ein interessantes Fernsehbild vor allem. Wer da mit welchem Interesse und mit welchen Absichten wie gehandelt hat, verschwindet hinter den sensationellen, das heißt: die Sinne reizenden Bildern des überraschenden Ereignisses selbst. Gegen diese Geschichtslosigkeit eines Fernsehens, das seine Stärke im Live-Bild hat und erfährt, muss man arbeiten. Immer und immer wieder.


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