Warum, wird sich mancher Fernsehzuschauer am 6. September gefragt haben, sehe ich mir das an? Eine RTL-Sendung, die den Titel Extra - Spezial trägt und so den Boulevard-Charakter seiner selbst gleich doppelt so laut in die Fernsehwelt hinausschreit. Auch der Einstieg der Sendung mit Birgit Schrowange ließ Schlimmes erahnen. Denn die Extra-Moderatorin tat das, was sie sonst auch tut, sie pries das Sensationelle der Bildsensation an, die sie gleich zeigen werde. "Nur 14 Tage nach der Befreiung" spräche das Entführungsopfer Natascha Kampusch zum ersten Mal und das im Fernsehen und exklusiv in Deutschland bei RTL.
Ebenso schlugen die Trailer, mit denen die Zuschauer vor den beiden Werbeblöcken bei der Stange gehalten werden sollten, auf die Boulevard-Pauke. Auch die anschließenden Analysen der beiden Experten, die das gerade gesehene Interview noch einmal auf die Details überprüften, die ihnen verrieten - so das Senderversprechen -, "was in Nataschas innerer Welt geschieht", waren kaum auszuhalten. Geschweige denn die sich daran noch anschließende Examination durch Günter Jauch mittels eines Psychologen und des leiblichen Vaters des Entführungsopfers.
Warum also sieht man sich so etwas an? Zunächst einmal aus reiner Neugier, vielleicht mit einer besonderen Betonung der zweiten Silbe dieses Wortes. Man möchte wissen, wie die Frau ausschaut, die als Mädchen entführt wurde und nach acht Jahren Gefangenschaft frei gekommen ist. Man möchte an diesem Schicksal, isoliert die Kinder- und Jugendzeit zu verbringen, Anteil nehmen. Man möchte erfahren, wie sich ein Mensch unter solchen Bedingungen entwickeln konnte. Diese Neugier ähnelt jenen, mit denen man einst das Findelkind Kaspar Hauser oder den Wilden von Aveyron begafft und bestaunt hat. Und das Fernsehen übernimmt die Funktion, die bestaunenswerte Person so in das Licht der Öffentlichkeit zu stellen wie einst eine Kirmes oder eine Weltausstellung. Nur dass die Fernsehpräsentation diesmal eine gesamte Gesellschaft erreichte (das Interview des ORF erzielte eine Einschaltquote in Österreich von 80 Prozent aller Haushalte) und mittels der verschalteten Fernsehsysteme Millionen von Menschen in aller Welt.
Tatsächlich verdankt sich Form und Zeitpunkt weniger der beschriebenen Neugier sondern den Regeln der Mediengesellschaft. Die Berater der jungen Frau wussten, dass die Spekulationen über sie überhand nähmen, wenn sie sich nicht bald öffentlich zeigten. So hatten Zeitungen bereits Fotomontagen veröffentlicht, die das Gesicht des zehnjährigen Mädchens um acht Jahre hatten altern lassen. Auch nahmen die Mutmaßungen über die Familie wie die Art der Gefangenschaft stark zu. In diesem Augenblick konnten die medizinischen und juristischen Berater den Schritt in die Öffentlichkeit aber nur deshalb wagen, weil Natascha Kampusch das Martyrium ihrer Isolation und Gefangenschaft vergleichsweise gut überstanden hat.
So bleibt als der stärkste Eindruck des Interviews, das der ORF-Redakteur Christoph Feurstein mit der jungen Frau führte, die Souveränität zurück, mit der sie Fragen kommentierte oder zurückwies. So will sie den Namen des Eissalons, in dem sie nach ihrer Befreiung zum ersten Mal unerkannt in der Öffentlichkeit erschien, nicht nennen, weil das ja Schleichwerbung sei. Als sie erwähnt, dass sie oft Radio gehört habe und wohl dem Kulturprogramm des ORF ihre selbst angeeignete Bildung verdanke, fängt sie an zu grinsen, dann zu lachen, um dann in Richtung des ORF-Journalisten fortzufahren: "Nicht dass ich mich einschmeicheln möchte". Als der Interviewer noch einmal auf ihre Träume zu sprechen kommen möchte, lehnt sie das ab: "Na, das sind wir ja wieder bei den Träumen."
Das Interview wurde vor mindestens drei, wenn nicht vier Kameras aufgezeichnet. Es ist an mehreren Stellen gekürzt worden, auch wenn man diese Kürzungen durch die Form der Schnitte zu kaschieren suchte. Im Interviewraum waren jenseits der Kameras Betreuer und Begleiter der Interviewten anwesend. Mehrfach schaut Natascha Kampusch sie an, wenn sie über mögliche Antworten nachdenkt oder wenn sie sich bei Tatsachenbehauptungen nicht sicher ist. Nur einer der Begleiter ist zweimal im Bild zu sehen. Es ist ihr behandelnder Arzt, den sie nach einigem Zögern als die derzeit für sie wichtigste Person bezeichnet. Mehrfach wird spürbar, dass es Natascha Kampusch in und mit diesem Interview darum geht, sich bildende Legende zu widerlegen. In diesen Passagen formuliert sie definitorische Sätze, die ein für alle Mal festlegen sollen, wie es gewesen sei. Gleichzeitig weist sie auf Grenzen hin, die sie zum Schutz ihrer Person zieht. Dass Fotos des Verlieses veröffentlicht wurden, hält sie für einen starken Eingriff in ihre Intimsphäre; die Zuschauer wollten sicher auch nicht, dass Bilder ihres Wohnzimmers einfach so abgedruckt würden. Sie stellte nicht die Frage, wer die Fotos aufgenommen und wer sie an die Presse weitergegeben hat.
Natürlich ist in vielen Szenen eine enorme innere Anspannung zu spüren. Es kommt zu klassischen Versprechern, die das Unbewusste freilegen. (Auch beim Interviewer, der zu Beginn vorsorglich fragt, "man müsse sie nicht mit Samthandschuhen angreifen".) Ihre Gestik ist in vielen Augenblicken noch kindlich, während ihre Sprache so elaboriert ist, dass die RTL-Moderatorin sich stark wundert. In ihren Berichten vermittelt sie vorsichtig einen Eindruck all der Ängste, die sie während der gespenstischen Entführung beschlichen haben. Dass und wie sie den Täter analysiert, ist der Ausweis jener Kraft, die sie hat überleben lassen. Ihr Psychogramm enthüllt das Bild eines Muttersöhnchens, das alles kontrollieren wollte und wohl auch musste. Und es lässt erahnen, wie raffiniert die psychische Konstruktion der von ihm gewaltsam geschaffenen Abhängigkeit seines Opfers war. Mit ihrer Flucht habe sie ihn gleichsam zum Tode verurteilt, da er ihr ja stets seinen Selbstmord als Folge ihres Entkommens dargelegt habe. In diesem Moment wurde jedem deutlich, der zusah und zuhörte, dass es noch lange Zeit braucht, ehe Natascha Kampusch ihre Erfahrungen verarbeitet hat. Eine Zeit jenseits der Massenmedien, jenseits der kollektiven Neugier.
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