In einem bemerkenswerten Interview mit dem Magazin der Süddeutschen Zeitung vom 13. April 2007 entwirft Franz Müntefering, Vizekanzler der großen Koalition und ehemaliger Kurzzeit-Vorsitzender der SPD, ein detailscharfes Selbstbild. Über viele seiner Bekenntnisse und politischen Behauptungen wäre zu diskutieren.
Interessant hier und an dieser Stelle sind die zweimaligen Hinweise auf seine politische Sozialisation. Er war im tiefen Sauerland in den fünfziger Jahren groß geworden. In einer Zeit und in einer Gegend, in der die Buchhandlung sich beispielsweise weigerte, Rowohlt-Bücher zu verkaufen, weil sie der Kirche als anrüchig galten, oder in der Sartre nicht auf einer städtischen Bühne gespielt werden durfte, weil dieser als Kommunist verschrieen war. Müntefering beschreibt anschaulich, wie er sich von diesem konservativen Milieu "abnabelte", indem er linke Zeitschriften abonnierte, weil es sie sonst nicht zu kaufen gab. Als solche bezeichnet er zunächst die Satire-Zeitschrift Pardon, die tatsächlich auch politische Artikel abdruckte und nicht nur mit ihren Karikaturen wider den Stachel löckte. Dann nennt er Konkret, aber auch Die Zeit. Und er sagt: "Man hörte WDR III".
Müntefering meint ein Programm, das heute noch unter dem Titel WDR 3 firmiert und bundesweit nicht nur über Kabel und Satellit, sondern auch im Internet live empfangen werden kann. Heute widmet sich dieses Programm zu weiten Teilen der klassischen Musik. Doch anders als bei vielen anderen ARD-Programmen dieser Sorte sendet man hier keine Musikhäppchen sondern ganze Stücke. Eine Sendung wie Klassikforum, die dieser Tage ihr 20-jähriges Bestehen feiert, spielt also - von Anmerkungen eines versierten Moderators begleitet - alle Sätze einer Symphonie und nicht nur jenen Satz, den alle lieben. Auch das Repertoire bleibt nicht auf die Zeit des Barock oder der Romantik begrenzt. Hier werden ebenso Komponisten des 20. Jahrhunderts gepflegt und in Korrespondenz zu ihren Vorgängern gesetzt, deren Namen mehr kennen als ihre Werke. Hier werden Interpretationen von Stücken in Gegensatz zueinander gesetzt. Gelegentlich wird sogar, wenn einer seiner Redakteure, Hans Winking, am Mikrophon sitzt, auch gepflegt polemisiert.
In diesem Programm scheint etwas von dem auf, was den jungen Müntefering einst im Sauerland angezogen haben muss. Denn er beschreibt, dass die wichtigsten kulturellen Impulse von außen, also durch das Radio, in die Wohnung seiner Eltern gelangten: "Ich habe meinen Vater nie mit einem Buch gesehen - außer dem Gesangsbuch sonntags. Meine Mutter hat Lore-Romane gelesen. WDR, drittes Programm, das war eigentlich meine Heimvolkshochschule." Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre wurden Radio und das junge Fernsehen als Medien betrachtet, mit denen man die Bürger in Deutschland kulturell, aber auch politisch bilden konnte. Als man in den öffentlich-rechtlichen Anstalten neue regionale Fernsehprogramme plante, die heute als die Dritten firmieren, gingen alle Planer davon aus, dass sie einen hohen Anteil an Bildungssendungen enthalten sollten.
Darunter verstand man damals im Radio wie im Fernsehen nicht nur im Wortsinne Bildungssendungen, die Sprachkenntnisse vermittelten oder Schulabschlüsse nachzuholen ermöglichten. Darunter verstand man auch Sendungen, die sich der künstlerischen Produktion in Musik, Literatur, Bildender Kunst, auch Film ernsthaft annahmen. Wenn man so will, handelte es sich um ein qualitativ hochstehendes Feuilleton, das man täglich sendete. Es beinhaltete im Radio auf WDR 3 beispielsweise die tägliche Lektüre von Romanen der Weltliteratur. Eine Radiogattung, die heute jenseits des Radios auf CDs fröhliche Wiederauferstehung feiert. Es gehörten Diskussionen und Streitgespräche dazu, in dem über den Wert von künstlerischen Provokationen gestritten wurde oder Werkdeutungen miteinander verglichen wurden. Und es zählte dazu ein Kritisches Tagebuch, das sich vom reinen tagesaktuellen Kulturbegleiter zu einem frechen Beobachter der gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse wandelte. Diese werktägliche Sendung gibt es noch heute, nur heißt sie jetzt TagesZeichen. Sie wurde im Rahmen einer jener Programmreformen umbenannt, die öffentlich-rechtliche Sender gerne zum Ausweis ihrer Modernität veranstalten und die Programme gelegentlich verunstalten.
Auch das Gesamtprogramm von WDR 3 hat sich verändert. Es hat sich zu einem Programm gewandelt, das man auch nebenbei hören kann. Diese Begleitfunktion haben ja viele andere Programme so weit getrieben, dass man sie tatsächlich nur nebenbei hören kann: Wer nur eine Minute konzentriert zuhört, wird angesichts des Geschwafels, der sprachlichen und sachlichen Fehler und des aufgedreht fröhlichen Tonfalls zutiefst depressiv gestimmt. Die Künste kommen auf diesen Radiowellen, vom Fernsehen ganz zu schweigen, nur als Material vor, mit dem man Sendungen illustrieren, also aufhübschen kann, oder als Serviceangebot, in dem die jeweiligen Konzerte, Romane, Ausstellungen oder Kinofilme schematisiert gelobt oder getadelt werden. Das Feuilleton als eine Art von Warentest, der die Künste tatsächlich allein auf ihren Warencharakter festschreibt. Eine intellektuelle, also auch im Sinne von Müntefering bildende Auseinandersetzung mit diesen künstlerischen Arbeiten findet von Ausnahmen - und einige davon laufen auf WDR 3 - nicht statt.
Warum kam es zu diesen Verlusten? Auch darauf weiß Müntefering indirekt eine Antwort. Seine Mutter habe, als sie seine Auseinandersetzung mit dem Radio und der Literatur mitbekam, die Furcht geäußert, das führe "in Untiefen, in Zweifel, in Sinnkrisen, in Unglück". In vielen deutschen Rundfunkanstalten regiert der Geist von Münteferings Mutter.
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