Das rhetorische Duell hatte etwas Theatralisches an sich. Da trat am 2. Juli ein weithin unbekannter, zudem unscheinbar wirkender Parlamentarier aus Deutschland in Straßburg an, um wider den amtierenden EU-Ratsvorsitzenden Zeugnis abzulegen. Dieser hieß seit genau einem Tag Silvio Berlusconi, seines Zeichens Ministerpräsident von Italien, Besitzer eines milliardenschweren Konzerns und eines mittelschwer angeschlagenen Rufes, zu dem Vorwürfe der Bestechung, des Amtsmissbrauches, des Kontaktes zur Mafia e tutti quanti beigetragen haben.
Der unbekannte Parlamentarier aus Deutschland, der den unauffälligen Namen Schulz trägt, klagte in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament den neuen Ratsvorsitzenden nicht ob all der Verdächtigungen an. Er erinnerte ihn vielmehr - sanft in der Wortwahl, aber beharrlich in der Haltung - an das, was dieser bislang als italienischer Ministerpräsident blockiert hatte, unter anderem die Einrichtung einer europäischen Staatsanwaltschaft. Es schimmerte in seinen Worten der Verdacht durch, Berlusconi habe diese Einrichtung, die auch gegen ihn selbst tätig werden könnte, vermutlich sogar müsste, aus reinem Eigennutz verhindert.
Die Provokation funktionierte. Berlusconi, den sie in seinem Heimatland "Buffone" (Hampelmann) rufen, machte seinem Schimpfnamen alle Ehre. Statt auf den Sachvorschlag des wackeren Schulz einzugehen, schlug er diesem mit arroganter Geste vor, sich für die Besetzung eines Filmes über ein Konzentrationslager, der gerade in Italien gedreht werde, als "Kapo" zu bewerben. Dafür habe er sich mit seiner Rede allemal als ideale Besetzung erwiesen. Es folgten noch weitere Beschimpfungen. So bezeichnete er die EU-Parlamentarier als "Touristen" in Sachen Demokratie. Die Folge war eine aufgeheizte Stimmung. Vielen war die Freude anzusehen, dass sich Berlusconi als der entpuppt hatte, den man in ihm ohnehin schon immer gesehen hatte. Der Wolf hatte für sie seinen fadenscheinigen Schafspelz schon am zweiten Amtstag abgelegt. Der Abgeordnete Schulz reagierte mit einer Bescheidenheitsgeste. "Aus tiefem Respekt vor den Opfern des Faschismus" wolle er auf die Anspielungen Berlusconis nicht eingehen.
In den Tagen danach waren die deutschen Medien mit der Kontroverse "Schulz vs. Berlusconi" beschäftigt. Überall wurde der italienische Ministerpräsident ob seiner Entgleisung getadelt. Eingeordnet wurde seine Beleidigung des wackeren Schulz aber nicht. Kein Journalist erinnerte beispielsweise daran, dass Oskar Lafontaine seinen Parteifreund und damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt einmal mit den Worten attackiert hatte, mit den von diesem gepriesenen Sekundär-Tugenden könne man auch ein Konzentrationslager leiten. Und keiner dachte daran, laut an die ehemalige Justizministerin Däubler-Gmelin zu erinnern, die ihr Amt verlor, weil sie kurz vor der letzten Bundestagswahl die Kriegsstrategie des amtierenden US-Präsidenten Bush mit der Hitlers verglich. Kurzum: In einem Land, in dem so unendlich oft jener und dieser mit Hitler und seinen Schergen verglichen oder gar gleichgesetzt werden kann, darf der Berlusconi-Satz nicht auf eine Goldwaage gelegt werden.
Nun war dieser Satz gewiss nicht, wie Berlusconi anschließend aussagte, ironisch gemeint. Dennoch hat er eine zweite Bedeutung, die als erster Harald Schmidt in seiner Sendung freilegte. Berlusconi hatte den wackeren Schulz, dem die Kontroverse eine für ihn vollkommen neue Publizität brachte, ja nicht als KZ-Schergen bezeichnet, sondern ihn nur als idealen Darsteller einer solchen Filmrolle empfohlen. Dafür gibt es nun in der Tat zwei große Namens-Vorbilder. In beiden Fällen handelt es sich um Nazis, die als tumbe Befehlsempfänger ihren Dienst verrichten, aber ob ihrer Dummheit ungewollt das Falsche (im Sinne der Nazis) und damit das Richtige (im Sinne der Filmerzählung) tun. Gemeint ist zum einen jener Gestapomann Schulz, der in Lubitschs Komödie To Be or Not to Be (1942) als Adjutant des SS-Gruppenführers Ehrhardt fungiert. Zum anderen jener Feldwebel Hans Schultz, der in der US-Serie Hogan´s Heroes (1965-1971) ein deutsches Strafgefangenenlager bewacht, in dem Soldaten und Offiziere der Alliierten inhaftiert sind. Hogan´s Heroes läuft derzeit unter dem deutschen Titel Ein Käfig voller Helden in der ungezählten Wiederholung auf Kabel 1. Von seiner Funktion und seiner eingeschränkten Intelligenz mag dieser Serien-Schultz Berlusconi vorgeschwebt haben, als er den Parlamentarier-Schulz in den Senkel stellen wollte. Denn der von John Banner gespielte Schulz ist ebenso tumb wie ungelenk, korrupt wie opportunistisch, verfressen wie kindisch. Sein Lieblingssatz lautet (im Original): "I see nothing."
Es kann natürlich auch sein, wie italienische Zeitungen berichteten, dass sich Berlusconi durch die Suchanzeige einer italienischen Produktionsfirma zu seinem Vergleich animiert sah. Mit ihr wurde öffentlich nach dem Darsteller eines KZ-Wächters gefahndet. Das verleitete einige Journalisten dazu, die Spur zu jenen billigen italienischen Serienfilmen über die Nazis und ihre Lager zu verfolgen, die seit den sechziger und siebziger Jahren mit den Elementen von Gewalt und Sex spekulieren. Vielversprechender scheint aber der Ausgangspunkt Hogan´s Heroes zu sein. Denn der Hauptdarsteller dieser Serie ist jener Bob Crane, über dessen spätere Entwicklung der Drehbuchautor und Regisseur Paul Schrader seinen jüngsten Film vorgelegt hat, der zur Zeit in Europas Kinos zu sehen ist. In Auto Focus ist die mit Hilfe von Amateurvideos befriedigte Sexsucht zu studieren, der dieser Schauspieler in den siebziger Jahren verfiel.
Berlusconi hat - ohne es zu wollen - mit seinem Vergleich verraten, auf welcher Wirklichkeitsebene er sich bewegt. Es ist die Ebene der Fernsehserien, der Soaps, der billigen Kinofilme, der Videorecorder und der Elemente von Sex and Crime. Es ist die Welt, in der er zum Star aufstieg, er, der Unternehmer, der sich zugleich als Entertainer fühlt. Und der deshalb zwangsläufig, um sich und Italien zu erretten, den Politiker gab. Der er nun ist und den er mimt. Der wackere Schulz hat von dieser Seite Berlusconi nichts geahnt oder sie hat ihn nicht irritiert. Umgekehrt wusste Berlusconi nicht, dass Schulz mit seiner ein wenig verklemmt vorgetragenen Attacke, seiner pathetischen Replik und seinen späteren umständlichen Ausführungen in Hörfunk und im Fernsehen sich weniger für einen Part in Hogan´s Heroes als vielmehr für eine Rolle in einer unserer deutschen "Daily Soaps" empfahl - als Darsteller des Sozialkundelehrers. Und Berlusconi? Er gemahnte mit seinem Auftritt im europäischen Parlament ungewollt an Jack Oakie, der in Chaplins Film Der große Diktator unter dem Filmnamen Benzino Napoloni den italienischen Diktator Mussolini parodierte.
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