Erleichtert, ihrem großen Ziel ein großes Stück näher gekommen zu sein, blieb sie, als sie sich am Tag ihrer Nominierung zur Kanzlerkandidatin der CDU/CSU der Presse präsentierte, gleich beim ersten der beiden auf einem kleinen Podium aufgebauten Rednerpulte stehen. Doch das war deutlich mit dem Zeichen und der Schrift der CSU zugeeignet und dem mit ihr auftretenden CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber vorbehalten. Als sie ihren Irrtum bemerkte, lachte sie, wie es ihre Art ist, mädchenhaft auf, um dann, als sei nichts gewesen, zum nächsten und richtigen Pult zu gehen.
Angela Merkel hat in den 15 Jahren, in denen sie im gesamtdeutschen Politikgeschäft steckt, eine Menge gelernt. Beispielsweise eine Rede zu pflegen, die das Nichtssagende mit dem Pathos kurzschließt: Es herrsche, sagt sie am Tag ihrer Nominierung, zwischen CDU und CSU ein "Geist der Freundschaft und der Freude", was vermutlich nur dann stimmt, wenn man sich diesen Geist als Schreckgespenst vorstellt. Sie verspricht eine "Agenda Arbeit", was einerseits so modern wie eine Schröder-Floskel klingen soll, andererseits aber das Problem kurz und klar benennen will. In welchem grammatikalischen oder gar inhaltlichen Verhältnis die Agenda zur Arbeit aber bei ihr steht, das sagt ihre Floskel nicht. Auch der nachfolgende Satz "Arbeit braucht Wachstum und Wachstum braucht Freiheit" hilft inhaltlich nicht viel weiter, es sei denn, man sei der Meinung, in Deutschland sei die Arbeitslosigkeit eine direkte Folge einer herrschenden Unfreiheit.
Edmund Stoiber, der ihr 2002 noch das Amt des Kanzlerkandidaten entwunden hatte und dann gegen Gerhard Schröder baden ging, hat die freie Rede immer noch nicht gelernt. Jeder zweite Satz verunglückt systematisch. Das liegt daran, dass er sich gerne an bürokratischen Begriffen festhält, weil sie ihm Stabilität im freien Fluss der Gedanken bieten. Als er erklären möchte, in welcher seelischen Verfassung sich die Gremien beider Parteien befanden, als sie Frau Merkel nominierten, sagt er: "Die Stimmung war im Grunde genommen gelöst." Man kann den ungeschickten Gebrauch des Füllsels "im Grunde genommen" allerdings auch als unfreiwillige Wahrheit deuten. Stoiber, der seiner Konkurrentin den neuen Job weder gönnt noch zutraut, kann den Moment ihrer Berufung nicht einfach als "gelöst" bezeichnen, sondern nur als "im Grunde genommen gelöst", wenn man also von allerlei Nebenerscheinungen absieht. Diesen Zweifel durfte Stoiber in diesem historischen Moment nicht artikulieren, also brach er sich nur ungewollt seine Bahn.
Stoiber wurde im letzten Wahlkampf trainiert und gecoacht. Man hat ihm das Fuchteln mit dem Zeigefinger verboten, man hat ihm nahegelegt, auf seine langen Schachtelsätzen zu verzichten, man übte ein kameragerechtes Lächeln ein. Ein solches Training wurde auch Angela Merkel in den letzten Jahren verabreicht. Wer auch immer sie coacht, hat an ihrem Äußeren gearbeitet. Am Tag der Ernennung zur Kandidatin sah sie frischer und besser frisiert aus als in den Monaten zuvor. Aber wie Stoiber ist ihr eine grundlegende Skepsis gegenüber den Massenmedien und besonders gegenüber den Kameras des Fernsehens nicht abzutrainieren. Angela Merkel liebt das Licht der Studioscheinwerfer nicht. Man spürt, wenn sie in einer Talkshow sitzt, eine mentale Reserviertheit; sie ähnelt dann einem Flugreisenden, den insgeheim die Vorstellung umtreibt, dass Flugzeuge gar nicht fliegen können, und der deshalb jeden Augenblick mit einem Absturz rechnet.
Diese Reserviertheit muss man nicht unbedingt als Schwäche deuten. Auf dem evangelischen Kirchentag beispielsweise habe sie in Gesprächen und Diskussionsrunden locker gewirkt, wird berichtet. Deshalb interpretieren Freunde der Frau Merkel ihre Reserviertheit dem Fernsehen gegenüber als bewusste Abwehr des ironischen Spiels mit sozialen Rollen. Angela Merkel will keine Medienperson sein sondern ein authentisches Subjekt. Deshalb betont sie denn auch am Tag ihres Amtsantritts als Kandidatin das eigene Ich so sehr: Das Wahlprogramm würde mit dem "Mut zur Ehrlichkeit" entwickelt. Und genau "dafür stehe ich ganz persönlich ein". Sie möchte, kündet sie hiermit indirekt an, offen und direkt zu den Menschen sprechen. Für sie werde es keine doppelte Bedeutung ihrer Worte geben. Sie werde sagen, was sie denke, und sie wird denken, was sie sagt. Ebenso mutig wie ehrlich. Und umgekehrt.
Wem das auf eine zu belächelnde Weise schlicht klingt, wer in der Feier des authentischen Subjekts eine Art Politikkitsch entdeckt, wer sich am mimischen Ungeschick erfreut, wer die Politikerin Merkel auf ihre Schnippelfrisur reduziert, mag vielleicht Recht haben. Er irrt allerdings, wenn er daraus eine zukünftige Wahlniederlage ableitet. Als 1982 Helmut Kohl zum Bundeskanzler gewählt wurde, verhielten sich die Medien ähnlich. Sie belächelten den Provinzpolitiker, der sich kaum auszudrücken vermochte und der auf Fotos stets so hüftsteif wirkte, und schmähten ihn als "Birne". Kohl ignorierte das alles. Er saß diese wie jede andere Kritik in den nächsten Jahren einfach aus. Ähnlich verhielt er sich gegenüber dem Fernsehen, dem er - so glaubte er - seine Wahlniederlage als Kanzlerkandidat 1976 verdankte; selbst ihm treu ergebene Fernsehjournalisten, die ihm jedes Wort von den Lippen ablesen wollten, behandelte er wie streunende Hunde. Politisch schadete es ihm nicht.
Angela Merkel wird man nur politisch verhindern können. Indem man das, was ihre politische Absichten ist, aus ihren Reden und Erklärungen herauspräpariert. Und indem man ihre Absichten als Interessenpolitik einer kleinen gesellschaftlichen Gruppe herausstreicht. Kurzum: Man muss sie ernster nehmen, als sie im Fernsehen erscheint.
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