Die politische Schulklasse

Medientagebuch Streber, Pausenkasper, Hinterbänkler: Die Fernsehgesichter der Macht

Eine Qualität des Fernsehens besteht darin, dass man den Vertretern der Politik bei der Arbeit zusehen kann. Vielleicht weniger an der Arbeit der politischen Klasse als an der Arbeit an sich selbst. In den vielen Nachrichtensendungen, Live-Übertragungen, Magazinberichten und Hintergrundfilmen kann man studieren, wie sich die Politiker als besondere Menschen entwerfen, die sich von allen anderen möglichst positiv unterscheiden wollen und auf diesem Wege reichlich Ansehenskapital für zukünftige Wahlkämpfe oder andere Zwecke zu sammeln beabsichtigen. Normalerweise verteilen sich diese Augenblicke der Erkenntnis auf mehrere Wochen, gar Monate. Dann aber ballen sie sich auf engstem Raum.

Es begann mit der Rede des Bundespräsidenten. Schon im Vorfeld hatte es viel Gerede um diesen Auftritt gegeben. Man erwartete viel, und viele etwas ganz anderes oder Gegensätzliches. Horst Köhler wurde dieser doppelten Erwartung gerecht. Er sprach für die, vor denen er sprach - den Vertretern der deutschen Arbeitgeber. Und redete für die, die ihn einst überraschend zum Kandidaten kürten und ihn schlussendlich auch wählten - die Mitglieder von CDU/CSU. Nun muss man all die Parolen nicht wiederholen, die Horst Köhler vor jenen wiederholte, die sie einst prägten. Man muss auch nicht der Eingebung nachlauschen, die ein Zitat von Montesquieu in den Text schmuggelte. Man muss nur das Gesicht des Redners betrachten, der Binsenweisheiten und Reklamesätze mit dem Gestus des größten Ernstes vorträgt. Es glüht in diesem Mann, wenn er vor einer solchen Versammlung spricht. Er wirkt wie ein Klassenprimus aus den sechziger Jahren, der bei der Abiturfeier einen Gedanken von Platon oder Sokrates variiert und das als Philosophie ausgibt. Es ist der Stolz, etwas Besonderes erreicht zu haben, nämlich dieses Amt, das ihm per Zufall in den Schoß fiel, und das er dergestalt zu besitzen beabsichtigt, mit der eben ein solcher Primaner seinen ersten Wagen durch die Kleinstadt lenkte.

Zu denen, die man im Zwischenschnitt der Berichte unter den Zuhörern erkannte, gehörte der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle. Den hatte dieser Tage das Schicksal ereilt, nicht vom Kanzler zum Gipfel mit Fischer, Merkel und Stoiber eingeladen worden zu sein. Das wurmt den jungen Mann, den es schon seit Jahren, wenn nicht seit seiner Geburt hoch hinaus zieht. Und so gibt er sich, während er der Rede von Horst Köhler lauscht, ganz so, als schmeckte er die ernsten Worte nach. Immer wieder nickt er vor sich hin, als könne und wolle er jeden Allgemeinplatz, der da vom Rednerpult herunterperlt, voll und ganz unterschreiben. Gelegentlich blickt er nach links und sieht dorthin, wo die Kamera steht, die ihn aufnimmt. Die Geste des Nickens und die Mimik des ernsten Zuhörens ist nichts als eine Maske, die sich Westerwelle für eben diese Kamera aufschminkt. Der Spaß-Politiker von einst möchte, da die alte Masche nicht mehr läuft, nun ernst genommen werden. Womit und weshalb ist zweitrangig.

Zwei Tage später wird Angela Merkel Horst Köhlers Trivialaussagen nachbeten. Doch ihre Bundestagsrede, mit der sie sich endlich als die Konkurrentin des mal wieder in Schwierigkeiten geratenen Kanzlers etablieren möchte, gerät merkwürdig schief. Während sie denkt, indem sie Köhler zitiere und paraphrasiere, lobe sie sich selbst, die ihn erst zu dem gemacht hat, was er heute zur Überraschung aller ist, beweist sie für die Zuhörer nur, dass es nur wenig gibt, mit dem man diese Politikerin identifizieren kann. Sie redet stets in fremden Sprachen. Und diesmal kommt es als Köhler-Glaube daher.

Politisch fatal war die Rede, weil der Kanzler in Replik auf den Bundespräsidenten tief in die Rhetorikkiste gegriffen hatte. Um das zu erklären, muss man die sich widersprechenden Aufgaben dieser Rede skizzieren. Zum einen wollte sich Schröder das Heft der Arbeitsmarktreformen nicht aus der Hand nehmen lassen. Also wiederholte er all das, was sein Wirtschafts- und Sozialminister seit Wochen vor sich hinplappert und die Industrie zu immer weiteren Forderungen animiert. Zum anderen wollte er seiner Partei, die unter seinem Kurs ächzt und leidet, etwas Gutes tun. Also attackierte er, ohne Köhlers Namen zu nennen oder seine Rede auch nur zu erwähnen, dass es für die Unternehmer gut anstünde, so patriotisch zu sein wie viele Arbeitnehmer, die Lohnkürzungen zum Erhalt ihrer Arbeitsplätze in Kauf nähmen. Die erhoffte Wirkung trat ein. Die SPD-Fraktion klatschte begeistert Beifall, als habe der Redner ein Grundbekenntnis sozialdemokratischer Politik verkündet, wo er doch nur dem konservativen Gegner mit dessen Waffe (Patriotismus) einen leichten Wangenhieb versetzte. Wenig Lohn für all die Bitternis, welche die sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten in den nächsten Woche noch zu durchleiden haben, wenn sie Schröders Sozialpolitik in Gesetze ummünzen müssen.

Doch der Triumph, den Schröder bei seiner Rede empfunden haben mag, währte nicht lange. Das lag an den Nachrichten aus Kiel, wo Heide Simonis viermal hinter einander die erforderliche Mehrheit nicht erreichte. Die Situation wurde exakt in zwei Bildern gespiegelt. Das eine zeigt die amtierende Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, wie sie den Tränen nah vor sich hin starrt und vermutlich nichts mehr von dem wahrnimmt, was links und rechts an Getöse laut wird. Die Sozialdemokraten schreien vor Wut und Zorn über den "Verräter" und den "Verrat". Die Politiker der Grünen sind fassungslos und sehen ihre Pfründe flöten gehen. Und die Vertreter der dänischen Minderheit, die sich so wacker geschlagen haben, verstehen die Welt nicht mehr.

Das zweite Bild zeigt den Gegenkandidaten von Heide Simonis, Peter Harry Carstensen, der sich wie ein Schulbub freut, wenn der verhasste Sonderling der Schulklasse an der Tafel bei einer Mathematikaufgabe scheitert. Es ist die pure Schadenfreude, die sich in seinem Leib Bahn bricht und als fettes lautes Lachen aus ihm herausquillt. Und es ist die Vorahnung jener Macht, die nun über ihn kommen und dank derer er, der ewige Hinterbänkler, in die erste Reihe der bundesdeutschen Politik aufsteigen wird.


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