Während der Karnevalstage erlebt der gemeine Kölner bei Telefonaten von außerhalb zwei Reaktionsweisen. Die eine könnte man naiv nennen. Der Anrufer ist oder zeigt sich überrascht, dass beispielsweise am Rosenmontag kaum jemand in Köln arbeitet. Das erstaunt ihn oder erschreckt ihn zugleich angesichts der Folgen für das Bruttosozialprodukt. Die andere Reaktionsweise könnte man binnenethnografisch nennen. Der Anrufer hat vom Kölner Karneval schon gehört, und dieses Wissen verleiht ihm jenes Selbstbewusstsein, wie es Deutschen in Italien eigen ist, wenn sie beispielsweise "Due Espressos" ordern. Mitleidig erkundigt der Zeitgenosse, der sich für die Sitten und Gebräuche der Kölner Eingeborenen sensibel zeigen möchte, nach dem Seelen- und Leberzustand eines nach seiner Meinung zwangsläufig karnevalisierten Mitmenschen. Dass es in Köln ein Leben und Arbeiten jenseits des Karnevals gäbe, mag er sich nicht vorstellen.
Nun ist der Eindruck, in Köln herrsche am Rosenmontag Ausnahmezustand, vor allem vom Fernsehen herbeigerufen. Seit Jahrzehnten schon überträgt die ARD den Zug aus Köln. Für ihn wurde jene Doppelmoderation erfunden, die seit dem bei Fußballspielen, Monarchenhochzeiten und Trauerzeremonien zur Pflicht geworden ist. Notwendig wurde die Doppelmoderation, um sowohl der Berichterstattungspflicht zu genügen, für die eine gewisse Distanz zum sinnlosen Treiben notwendig erscheint, als auch sich des Insiderwissens zu bedienen, die zum Studium der spezifischen Erscheinungs- und Organisationsformen des Straßenkarnevals erforderlich sind. Wer kann beispielsweise die ewig gleich klingenden Schlager unterscheiden, die während jeder Session auf das unschuldige Ohr eintrommeln? Wer weiß, welcher Funktionär welchem Karnevalsverein so vorsteht und vortrinkt wie Gerhard Mayer-Vorfelder dem Deutschen Fußball-Bund? Wer kann all die plumpen Anspielungen auf die Kölner Stadtpolitik dechiffrieren, die auf den Wagen im Zug mit Pappmaché gestaltet werden?
In der Wahrnehmung ähneln diese Übertragungen denen vom Biathlon, die man in den letzten zwei Wochen nahezu täglich von den olympischen Spielen miterleben konnte. Minutenlang geschieht nichts als das Männer oder Frauen mehr oder minder schnell mit Skiern durch den Schnee gleiten. Dann kommen sie an der Schießanlage an und feuern stehend oder liegend (warum eigentlich nicht auch sitzend?) auf schwarze Scheiben, die bei Treffern weiß zugeklappt werden. Der Zuschauer nimmt das wahr in einer Mischung aus Meditation (das Gleiten) und Aufmerksamkeit (das Ballern). Und genau so sitzt man vor dem Fernsehapparat, wenn der Rosenmontagszug aus Köln an einem vorbeiflimmert. Mal meditiert man zum musikalischen Einheitsbrei aus Hummtata und Tschingderassabumm, mal erheischt der besondere Blick auf einen Karnevalswagen, ein hübsches Kostüm oder gar Gesicht Aufmerksamkeit, ehe man in das bleierne Meditieren zurückversinkt.
Der Eindruck vom Kölner Ausnahmezustand mag aber dadurch zustande kommen, dass in den letzten Jahren die Übertragungen und Aufzeichnungen vom Sitzungskarneval überhand genommen haben. Ausgehend von den bei diesen Sendungen abgebildeten Personen muss eine gesamte Millionenstadt "jeck" sein. In diesem Jahr hat beispielsweise das ZDF allein am Donnerstag (Mer losse d´r Dom in Kölle) und am Samstag (Typisch Kölsch) das Hauptabendprogramm dem Kölner Karneval gewidmet. Die ARD schlug erst am Rosenmontag zu, als es fast drei Stunden lang mit Karneval in Köln drohte. Das WDR Fernsehen nimmt schon seit Wochen fast jede Veranstaltung auf, die sich halbwegs für fernsehtauglich hält. Da wurde wöchentlich die Närrische Hitparade durchgenudelt, die am Sonntag mit einem bedrohlich quietschfidelen Finale abgeschlossen wurde. An Weiberfastnacht übertrug der Sender ab 11.00 Uhr stundenlang die Eröffnung des Straßenkarnevals, um dann ab 15.00 Uhr die in den eigenen Arcaden veranstaltete Party zu zeigen. Hier kommt auch der alternative Karneval (Stunksitzung) nicht zu kurz, der sich zum amtlichen verhält wie die Grünen zur FDP oder Platzeck zu Müntefering.
Nun könnte man angesichts dieser medialen Überproduktion von einem Sieg der rheinischen Kultur über Restdeutschland sprechen. Dem ist aber nicht so. Der Erfolg, den die stunden- und tagelangen Übertragungen beim Publikum auslösen, hat auch die anderen Regionen nicht ruhen lassen. Dass es in Düsseldorf (ARD) und in Mainz (ZDF) noch humorloser als in Köln zugeht, wenn "Helau" gebrüllt wird, und es unaufhörlich dialektal "singt und lacht", gehört dank ARD und ZDF zum Volkstumswissen. Aber wer ahnte jenseits der Stadtgrenzen, dass man auch in Frankfurt versucht, lustig zu sein - und das auf Hessisch? Dass man in Osnabrück am "Ossensamstag" einen Karnevalsumzug startet, der von Quantität und Qualität das Niveau den des kleinsten Kölner Vorortes geradewegs übertrumpft? Dass es in Thüringen und in Sachsen an Karneval so lustig zugeht wie selbst im Ruhrgebiet oder gar in Berlin?
Diesem Wissensdefizit halfen nicht erst in diesem Jahr die Dritten Programme ab. Sie haben ihren wachsenden Zuschauerzuspruch mit einer starken Regionalisierung erreicht, die weniger aus der kritischen Berichterstattung aus dem jeweiligen Bundesland, den Städten und Kreisen besteht, sondern weitaus mehr zur Identifizierung mit dem Leben vor Ort einlädt und oft auch verpflichtet. Eine Art Doppelstrategie: Während die politische Welt in Berlin agiert und so zwangsläufig Kritik, Distanz und Kälte produziert, sorgt die jeweilige Region mit ihren eigentümlichen Sitten und Gebräuchen für Sympathie, Nähe und Wärme. Folglich differenzieren sich im Karneval die Deutschen nach ihren Stämmen aus. Doch letztlich gleichen sie sich angesichts des schenkelklopfenden Humors ("Der kleinste Dom der Welt mit nur einem Stehplatz? Das Kon-Dom!") und der klatschmarschseeligen Klänge ("Ma hat ma Pech, ma hat ma Glück, Mahatma Ghandi") einander so wie ein faules Ei dem anderen.
Aber dieser Allgemeinsatz ist letztlich so richtig oder falsch wie die Annahme, in Köln sei jeder zum Karneval verdammt.
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