Nach den Themenwochen Krebs (2006) und Kindern (2007) hat sich die ARD in diesem Jahr dem Alter verschrieben. Damit es ein wenig eleganter klingt, lautet die Überschrift ein wenig verschmockt: Chancen einer alternden Gesellschaft - Themenwoche zum demographischen Wandel. Gerüchte sagen, dass es zur ersten Themenwoche zum Krebs kam, als es einen schweren Fall dieser Krankheit in der Familie eines ARD-Intendanten gab. Einer solchen Begründung bedarf es beim Thema Altern nicht. Denn die Zuschauer des ersten Programms altern seit vielen Jahren mit ihrem Programm und rücken im Durchschnitt bald auf das Rentenalter zu. Und die Intendanten der Landesrundfunkanstalten altern kräftig mit - die meisten üben ihr Amt noch weit im Rentenalter aus. Kürzlich hat MDR-Intendant Udo Reiter seinen Vertrag für weitere sechs Jahre verlängert. Wenn er 2015 aus dem Amt scheidet, ist er 71 Jahre alt. Damit würde er die Intendanten Pleitgen, Plog und Voß übertreffen, die mit 68 Jahren ihren Dienst quittierten.
Es mag ein wenig Rache mitgeschwungen haben, als Sven Kuntze den Eröffnungsfilm der Themenwoche für das Erste Programms anging. Denn Kuntze, der lange aus dem Hauptstadtstudio der ARD berichtet hatte und das Morgenmagazin moderierte, wurde im letzten Jahr mit 65 zwangspensioniert. Nun begab er sich im Auftrag seiner älteren Intendanten auf die Reise ins Alter. Alt sein auf Probe hieß der 90minütige Dokumentarfilm, den er zusammen mit Gesine Enwaldt und Ravi Karmalker realisierte. Die Methode seines filmischen Verfahrens ist nicht neu. Michael Braun wandte sie Anfang der 80er Jahre an: Der Dokumentarist begibt sich vor laufender Kamera in ihm fremde soziale Situationen und erlebt sie probehalber mit. Kuntze zog für neun Wochen in ein Kölner Seniorenheim und testete, wie es sich dort leben lässt. Darüberhinaus reiste er durch Deutschland, um nach Lebens-Alternativen zum Altersheim zu suchen.
Im Kölner Heim stößt er auf Menschen, die meist über 80 Jahre alt sind, und denen der Reporter wie ein junger Bursche erscheinen muss. Aber Kuntze setzte seinen Witz und vor allem seinen Charme ein - und kommt rasch ins Gespräch. Eine Frau ruft ihm einmal nach, er lache so "zauberhaft". So erhält er Einblicke in die Verhältnisse des Heims, beispielsweise dass Männer sich weitgehend dem gesellschaftlichen Leben verschließen, während Frauen die organisierten Veranstaltungen der Heimleitung besuchen. Kuntze erlebt auch, dass sich die Frauen zwar gesellschaftlich begegnen, aber kaum etwas voneinander wissen. Als er sich zu Heimbewohnerinnen an den Tisch setzt, die seit Jahren zusammen mittags speisen, muss er erfahren, dass diese noch nicht einmal wechselseitig ihre Namen kennen. Kuntze kommt seinen Gesprächspartnern nahe und erfährt von ihren Schicksalen und unterschiedlichen Haltungen zum eigenen Alter. Während die einen kein Problem darin sehen, sich in die Erinnerung an das gelebte Leben zurückziehen, leben andere bewusst, fast demonstrativ in der Gegenwart.
Der Film hat viele berührende Szenen, in denen sich Kuntze als guter Fragensteller und - noch wichtiger - als sehr guter Zuhörer erweist. So hätte sein Film, der gewiss auch eitle Augenblicke enthält und manchen zu quasseligen Text, zu den wichtigeren Produktionen des deutschen Fernsehens in diesem Jahr gezählt, wäre er nicht doch gelegentlich in die Haltung verfallen, Bote des wichtigen Fernsehens zu sein. Denn Kuntze initiierte nicht nur einen Musikabend, sondern ließ mit den Verbindungen seines Senders den Chorleiter Gottfried Fischer einfliegen, um bei den Heimbewohnern die Lust auf Chorgesang zu wecken. Für einen Moment erschien das Fernsehen als große Maschine, die den Zuschauern Wünsche erfüllt. Die Wirklichkeit des Fernsehens zeigt eine abendliche Totale des Heims von außen. Hinter den Fenstern flackern synchron die Lichter der Fernsehapparate. Ab 18.00 Uhr, erlebte Kuntze, ziehen sich alle Bewohner in ihre Wohnungen zurück und schalten den Fernseher ein. Ihre Isolation ist auch ein Produkt des Fernsehens.
Der größte Wagemut des Films war seine Platzierung. Seit vielen Jahren wagte das Erste Programm, für einen dokumentarischen Film 90 Minuten im Hauptabendprogramm freizuräumen. Die Zuschauer lohnten es nicht. Nur zwei Millionen sahen Kuntzes Entdeckungsreise. Dies überrascht nicht. Wer, wie die ARD, den Montagabend nach der Tagesschau programmlich so lange verkarsten lässt, muss sich nicht wundern, wenn eine Vitalisierung nicht auf Anhieb angenommen wird. Wenn die alten Herren der ARD, der 68jährige Programmdirektor Günter Struve allen voran, in der letzten Phase ihrer Amtszeit ein wenig mehr Mut zeigten, könnten sie diesen Montagabendtermin grundsätzlich für lange Dokumentarfilme öffnen, die sich ebenso schwieriger wie spannender Themen annehmen. Aber die alternde ARD-Gesellschaft wird diese Chance kaum nutzen. Schade.
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