Käse-, Wein- und Radsorten

Medientagebuch Die Kunst des Etappen-Parlandos: Zum Abschied des Tour de France-Moderators Herbert Watterott

Mitunter muss man Mitmenschen erklären, weshalb man sich in seiner Freizeit stundenlang freiwillig vor einen Fernsehapparat setzt, um erwachsenen Männern zuzuschauen, wie sie sich auf ihren Fahrrädern hohe Berge hinaufquälen, um sie dann im halsbrecherischem Tempo wieder hinabzufahren. Die Tour de France, die in diesem wie in den letzten Jahren abwechselnd von ARD und ZDF sowie durchgängig von Eurosport übertragen wurde, ist ein Fernsehphänomen.

Anders als bei Live-Übertragungen des Fußballs, die dem Zuschauer nicht nur das Interesse am Detail abverlangen sondern auch Kenntnisse von Taktik und Personal, und noch einmal anders als bei Live-Übertragungen vom Tennis, die vom Zuschauer stete Aufmerksamkeit jedes Ballwechsels erheischen, versetzen die Radsportübertragungen im Allgemeinen und die der Tour de France im Besonderen den Zuschauer vor dem Fernsehapparat in eine Trance. Denn in den stundenlangen Übertragungen geschieht oft nichts bis wenig. Ein paar Sportler sind dem Feld davon geradelt, da sie aber nicht zu den Favoriten zählen, lässt man sie einfach fahren. Und das bleibt so - akribisch in Zeitabstände übertragen und in wechselnden Ansichten der Führenden wie des Feldes durch die Motorrad- und Hubschrauberkameras festgehalten. Weil nichts bis wenig geschieht, fällt der Zuschauer bald in eine entspannende Ruhe, die man Trance nennen kann.

Die Kommentatoren beschreiben auf diesen Etappen mangels sportlicher Angebote die Landschaft, die durchradelt wird, und ihre kulturellen Besonderheiten. Besonders die kulinarischen Vorzüge werden gern in jenem fröhlich vor sich hinplätschernden Parlando näher bestimmt, das die Trance der Zuschauer auf das Beste befördert. Kaum hat man sich den einen Käsenamen gemerkt, folgt schon der nächste. Oder war es doch eine Weinsorte, die da gepriesen wurde, während das mehr als 100 Radsportler umfassende Feld durch eine Mittelgebirgslandschaft fuhr?

Die Trance kann stundenlang anhalten. Bei manchen Etappen ereignet sich bis zur Zielankunft nichts bemerkenswertes. Wenigstens dann kommt es zu einem Sprint, der prompt die Stimmen der Kommentatoren lauter werden lässt. Doch nicht selten kommt es bereits mitten in einer Etappe zu einem ungewöhnlichen Vorgang. Dann tritt plötzlich einer der Sportler an und eilt seinen Konkurrenten in aberwitzigem Tempo voraus. Das Feld verfällt sofort in hektische Betriebsamkeit. Man versucht dem Ausreißer hinterher zu eilen. Verblüffend die Tempounterschiede, die da in wenigen Sekunden entstehen. Überraschend, wenn Spitzensportler wie Freizeitradler aussehen, weil sie am steilen Berg der Geschwindigkeit des Ausreißers nicht mehr folgen können. Nichts dramatischer als der Kraftverlust des Favoriten, der mit einem Male seinen Konkurrenten, die er bis gerade noch mühelos beherrschte, Meter auf Meter, Sekunde auf Sekunde davon ziehen lassen muss.

Wenn man will, wird die Trance der distanzierten Betrachtung jäh durch diese Spannung des besonderen Augenblicks unterbrochen, den man miterlebt haben muss, um ihn vollends zu begreifen. In diesem Sinne bietet die Tour de France ein Abbild des Fernsehgesamtprogramms, dem die Zuschauer auch meistenteils in jener beschriebenen Trance folgen. In diesen Stunden erscheint das, was über den Bildschirm läuft, wie eine Art bewegter Tapete, die mit Tipps und Hinweisen aller Art für den Urlaub und den nächsten Essenseinkauf angereichert wird. Abgelöst werden diese Stunden durch die besonderen Augenblicke, in denen man mittels des Fernsehens etwas ansichtig wird, das man so nicht oder nicht auf diese bildsatte Weise wahrnehmen konnte. Dass man sich erst durch die Stunden der Trance durchkämpfen muss, um diese besonderen Augenblicke zu erleben, macht das suchtähnliche Potential des Fernsehens aus.

Herbert Watterott, der für die ARD seit 1971 von der Tour berichtete, hat die Kunst des Etappen-Parlandos bis zur Perfektion getrieben. Vermutlich hat der WDR-Reporter es sogar erfunden. In den Anfangsjahren bedurfte es dessen nämlich noch nicht. Damals wurden die einzelnen Etappen nur in kurzen Berichten zusammengefasst. Erst als Dietrich Thurau 1977 für mehrere Tage im gelben Trikot fuhr, und dann zwanzig Jahre später mit den Erfolgen von Jan Ullrich kam es zu jenen stundenlangen Live-Übertragungen, die seit Ende der 1990er-Jahre das Fernsehbild der Tour prägen. Watterott nahm man die Begeisterung ab, mit der über die Käse- und Weinsorten sprach. Nie gewann man das Gefühl, das einen bei den Worten vieler seiner Kollegen regelmäßig beschleicht, hier läse jemand aus einem Reiseführer vor. Nein, der Reporter wollte tatsächlich die Zuschauer an seinen kulinarischen Erfahrungen, an seiner Begeisterung ob all der Geschmacksentdeckungen teilhaben lassen.

Watterott kommentierte in diesem Jahr zum letzten Mal die Tour, da er im September pensioniert wird. Bei aller Liebe zum Radsport hat er immer eine gewisse Distanz zum Betrieb gehalten. Er hat sich anders als manche seiner Kollegen vom kurzzeitigen Ruhm einzelner deutscher Radprofis nicht blenden lassen. Dem Reklame- und Medienauftrieb, zu dem es in den letzten zehn Jahren rund um die Tour kam, stand er skeptisch gegenüber. Dennoch liebte er spürbar den Radsport, und man hörte seine Begeisterung jedes Mal heraus, wenn er den "roten Teufelslappen" ankündigte, die den letzten Kilometer einer Etappe signalisiert. Denn neben dem Parlando beherrschte Watterott auch den detailgenauen und fachkundigen Kommentar des ungewöhnlichen Vorgangs. Keiner sah beim Schlussspurt genauer hin, keinem unterliefen weniger Fehler als ihm.

Als er sich am 23. Juli zum Ende der Übertragung der Schlussetappe von den Zuschauern verabschiedete, klang diese Begeisterung noch einmal an: "Vive le Velo! Lange lebe der Radsport!"


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