Nach der Medienflut

KATASTROPHEN-BILDER Was wir vom Seebeben in Südostasien wissen, wissen wir aus dem Fernsehen. Über zwei Wochen dominierte der Tsunami die Nachrichten: ein Rückblick auf die mediale Verarbeitung des Unglücks

Als die Flut auf die Strände in Südostasien prallte, schlief man in Deutschland. ARD und ZDF sendeten am Vormittag des zweiten Weihnachtsfeiertages ihr Normalprogramm. Nur BBC World informierte die Zuschauer bereits in einer permanenten Dauersendung über die Katastrophe; selbst CNN International kam da nicht mit. Aber auch hier wie in den Radionachrichten war zunächst nur von wenigen Toten die Rede. Es schien keinen zu irritieren, dass die Opferzahlen aus Thailand wie von den Malediven kamen. Wer sich an diesem Vormittag vor einen Globus stellte, dem musste dämmern, dass die Katastrophe einen weitaus größeren Umfang als angenommen besaß. Denn was war mit den Inseln, die zwischen Thailand und den Malediven lagen? Und was war mit der Insel Sumatra in unmittelbarer Nähe des Seebebens?

Das ZDF informierte seine Zuschauer erst durch eine Sondersendung von heute gegen 11.30 Uhr. Eine Stunde später erfuhren die Zuschauer im Presseclub (ARD) durch ein am Bildrand durchlaufendes Nachrichtenband von der Katastrophe und wurden auf die nachfolgende Tagesschau verwiesen. Dass die deutschen Fernsehsender spät reagierten, ist deshalb ein Fehler, weil es das von ihnen selbst ausgeprägte Bild des eigenen Mediums dementiert. Das Fernsehen verspricht, omnipräsent zu sein und permanent aktuell zu reagieren. Katastrophen sind der Test dieses Versprechens und bringen so stets die Defizite des Mediums an den Tag. Deshalb mag es das Gefühl gewesen sein, verspätet reagiert zu haben, das in den nächsten Stunden und Tagen bei ARD und ZDF (und den privaten Sendern ohnedies) reflexhaft zu einer Art Überinformation führte. Sondersendungen der Nachrichten, Brennpunkte und Spezialausgaben häuften sich, ehe sie im neuen Jahr von den Talkshows zum Thema und Spendenshows abgelöst wurden.

Dieser Reflex wie die permanente Übersteigerung sollten sich auch an anderen Stellen der Berichterstattung zeigen. So wurde die Ungenauigkeit in den ersten Angaben der Todesopfer später durch die Methode einer nahezu stündlich aktualisierten Todeszahl kompensiert, die einen unwillkürlich an eine Aktiennotierung an der Börse erinnerte. Das nahm sich mitunter wie ein makaberer Steigerungswettbewerb um die schlimmste Zahl aus, spätestens als die Welt hoch spekulativ von über 3.000 aus Deutschland stammenden Opfern schrieb oder als man die Menschen, die in einem von der Flut umgestürzten Zug starben, zu den Opfern des "größten Eisenbahnunfalls aller Zeiten" machte. In den Nachrichten grassierte der Superlativ wie eine ansteckende Krankheit.

Auch im Umgang mit den Bildern findet sich der beschriebene Reflex: Am ersten Tag gab es nur Bilder von den Zerstörungen, die die Flutwelle hinterlassen hatte. Staunend betrachtete man, wie Autos oder Boote über das Land verstreut lagen, als seien sie von einer Riesenhand aufgenommen und durch die Gegend geworfen worden. Deshalb setzte in der Folge eine Jagd auf Bilder ein, in denen die Flutwelle gleichsam bei ihrer tödlichen Arbeit zu sehen war. Auf den Flughäfen in Bangkok wie in West- und Mitteleuropa fingen die Nachrichtenagenturen die Reisenden mit Bitten um ihr Videomaterial ab. Ihre Amateuraufnahmen kamen, wenn sie besondere Bilder enthielten, sofort in den internationalen Bildkreislauf. Kaum waren sie irgendwo exklusiv zum ersten Mal gezeigt worden, wurden sie von den anderen Sendern übernommen und endlos wiederholt. Die Zuschauer, die all das sehen wollten, wussten bald nicht mehr, welches Bild wann und wo aufgenommen wurde. Die Bilder sollten sich so übertrumpfen wie der Superlativ des einen Satzes den des vorhergehenden.

Wodurch waren diese besonderen Bilder gekennzeichnet? Um das zu analysieren, muss man zwei Bildsorten unterscheiden. Die eine wurde in den Hotelanlagen aufgenommen. Hier reagierten die Kamerabesitzer meist erst, als die Flut schon nahte. So beginnen die Aufnahmen mit der ankommenden Welle, die sich mühelos einen Weg durch Gebäude, Gartenanlagen, Swimmingpools bahnt. Zu sehen ist beispielsweise in einer seitlichen Totale, die von einem Hotelbalkon aufgenommen wurde, dass die Welle durch das Erdgeschoss eines vorgelagerten Gebäudes hindurch dringt und sich dann auf die Straße zwischen dem Gebäude und dem Hotel ergießt. Über die Höhe der Welle verriet dieses sehr früh gezeigte Bild wegen seiner Perspektive wenig.

Die zweite Bildsorte wurde an den Stränden aufgenommen: Zu sehen ist zunächst, dass sich das Meer zurückgezogen hat. Auf der Tonspur ist zu hören, wie ahnungslose Urlauber ein Naturphänomen bestaunen und eben nicht befürchten. Noch die Flutwelle, die vom Horizont näherrückt, wird mit Staunen betrachtet. Erst als deutlich sichtbar schwere Boote mitgerissen werden, entsteht eine Ahnung von der Gefahr, in der man sich befindet. In den Videos ist der Umschlag genau festzumachen, denn ab diesem Augenblick der Erkenntnis wird die Bildaufnahme uninteressant. Wenn die Kameras weiterlaufen, dann zufällig. So kommt die Flucht ungewollt ins Bild - als Folge unscharfer, verwackelter Einzelbilder und einzelner Schreie und Rufe auf der Tonebene. Das Ende der Bildproduktion markiert den Beginn des Lebenskampfes.

Später kamen Videos auf den Markt, in denen der frontale Aufprall der Welle auf die Hotelanlagen und damit tendenziell auch auf die Kamera zu sehen ist. Die Höhe der Welle, ihre Geschwindigkeit und ihre Wucht sind hier genau zu studieren. Sie reißt alles mit sich fort. Liegen, Topfpalmen, Kioske. Und Menschen. Diese Amateurbänder wurden in den Fernsehanstalten selbstverständlich geschnitten. So ahnt man mehr, als dass man es sieht, dass ein Mann, der sich an einem Baum klammert, bald die Kraft verlässt, oder dass der Bus, auf dessen Dach sich Menschen retteten, bald kippen und von der Flut weggeschwemmt wird. Es prägt sich der Eindruck ein, dass diejenigen, die sich zwischen Kamera und Flut befanden oder von dieser fortgerissen wurden, ihr zum Opfer gefallen sind. Belegt wird diese Schlussfolgerung durch eine Ausnahme: Als bekannt wird, dass eine schwedische Familie, die auf einem weltweit verbreiteten Bild zu sehen ist, wie sie der Welle entgegengeht, überlebt hat, macht diese Nachricht ebenso schnell die Runde wie die Bilder zuvor.

Den Bildern und Videos folgten die individuellen Erzählungen nach. Sie verliehen den Bildern zwar keinen Sinn, aber gaben den Gesichtern und Leibern einen Namen und eine Biografie. Einige dieser Erzählungen erscheinen im Fernsehen auf eine Weise privat, dass man sie gar nicht hören mochte. Andere gewannen die Größe von menschlichen Tragödien; wenn Väter oder Mütter unter Tränen beschreiben, wie sie den Tod des eigenen Kindes nicht verhindern konnten. Andere Erzählungen fanden eine Wendung ins Wundersame, wenn es die Tiere, die Ureinwohner und die Kinder gewesen sein sollen, die ahnten, was da auf sie zurollte; glatt geschliffen - wie sie im Jargon der Nachrichtenagenturen erschienen - weckten diese Heilsgeschichten Zweifel, auch wenn man an sie wie andere Rettungsgeschichten unbedingt glauben wollte.

Bald dominierten andere Erzählungen - banale und dumme, zufällige und beliebige. Alle, die aus Südostasien kamen, sollten nun Augenzeuge gewesen sein. Die Lokalreporter richteten ihre Kameras auf die Türen in den Flughäfen, aus denen die eintreffenden Touristen kommen mussten. Sie apportierten noch die kleinsten Erzählungen, Hauptsache, sie stammten von Augenzeugen. Und so hörte man von unbekannten wie bekannten Personen, was ihnen alles widerfahren war, und wenn ihnen das Wasser nur über die Füße geschwappt war. Es lag also nicht an der Überfülle der Informationen allein, dass die Katastrophe von Tag zu Tag kleiner wurde, obgleich sie vor Ort in der selben Zeit dramatischere Formen annahm, sondern auch an diesen vielstimmigen subjektiven Stimmungsberichten, in denen das Grauen zur Anekdote zusammenschnurrte.

Das endlose Geplapper der Augenzeugen wurde nur überboten von den Moderatoren, die sich mit einem überschaubaren Arsenal von Floskeln am Ereignis und seinen vielen Nachrichten abarbeiteten. Und von Korrespondenten wie Armin-Paul Hampel und Robert Hetkämper (beide ARD), die sich in Sri Lanka und in Thailand vor dem Chaos Tag für Tag aufbauten, um für die Kamera das von sich zu geben, was die internationalen Nachrichtenagenturen gemeldet hatten. Besonders absurd war in den ersten Tagen das Ritual, in dem die Moderatoren die Korrespondenten nach der Zahl der deutschen Opfer befragten: Ob sie schon etwas Neues wüssten? Nein, Neues könne man noch nicht sagen. Ob es exakte Zahlen gäbe? Exakte Zahlen lägen leider noch nicht vor, aber es wäre schrecklich.

Selbstverständlich gab es und gibt es ein legitimes Interesse des Fernsehens zu erfahren und zu vermitteln, wie es den deutschen Urlaubern ergangen ist. Viele Zuschauer haben selbst in dieser Region Urlaub gemacht oder kennen Menschen, die dort waren oder sind. Dennoch verblüfft im Rückblick, wie lange die Situation in jenem Teil von Sumatra, den jetzt alle Aceh zu benennen wissen, außer Blick blieb. Das ist zum einen Folge eines Bürgerkriegs, von dem man anlässlich der Katastrophe zum ersten Mal etwas hörte, und zum anderen der Tatsache geschuldet, dass es in diesem von der indonesischen Regierung zum Sperrgebiet erklärten Region keine deutschen Urlauber gab.

Nach vier oder fünf Tagen, das Ausmaß der Katastrophe stand mittlerweile fest, war davon die Rede, dass es eine gemeinsame Spendensendung der deutschen Fernsehsender geben solle. Sat1 preschte vor und kündigte eine eigene Veranstaltung an. Das ZDF zog nach und versprach eine zweite. Die ARD und das WDR Fernsehen wollten nicht abseits stehen und funktionierten schnellstens Live-Sendungen am Silvesterabend um: Während Karl Moik in der ARD Spenden einwarb, waren es im Dritten Programm des WDR die Bläck Fööss. Gleichsam ein mundartlicher Frontalangriff auf das deutsche Spendengemüt. RTL wiederum vertraute der klassischen Mobilisierung - durch Clips, Hinweise und Einblendungen. Das sollte sich als ein Fehler erweisen.

Denn Sat1 warb Spenden in Höhe von 10 Millionen Euro. "Spendenrekord" jubelte der Moderator. Einen Tag darauf konterte das ZDF, als es gar über 40 Millionen einsammelte. Bescheiden teile die Website des Senders mit: "Das bei weitem höchste Ergebnis, das je bei einer Fernsehsendung gesammelt wurde." Superlative auch hier. Beide Sender mehrten so ihr Renommee, während RTL in den Spendeschlagzeilen nicht auftauchte. Schlimmer war für den Privatsender allerdings, dass Michael Schumacher seine Spende von 10 Millionen Dollar (die Währungsangabe sollte wohl den Tatbestand seiner Steuerflucht aus Deutschland bemänteln) im ZDF bekannt gab und eben nicht in seinem Lieblingsprogramm RTL.

Der Überbietungswettbewerb um die meisten und höchsten Spenden trug bizarre Züge, wenn etwa in der ZDF-Sendung ein Bankier seine Spende schnell verdoppelte, um nicht von spendableren Konkurrenz abgehängt zu werden. Hier verband sich der Wille zur Hilfe mit dem eigennützigen Interesse der Eigenwerbung und der Selbstdarstellung. Auch die Politik war davon nicht frei. Die Bundesregierung erhöhte einen Tag nach der ZDF-Spendensendung die Summe der deutschen Staatshilfe auf insgesamt 500 Millionen Euro und verzehnfachte so den Betrag, der durch Sat1 und ZDF zusammengekommen waren. Die Opposition, die hilflos zusehen musste, wie Gerhard Schröder erneut politisch von einer Flut-Katastrophe profitierte, mäkelte an dieser Summe herum und ging damit in die Falle, die ihr von der Regierung gestellt worden war.

Am Ende waren die schrecklichen Bilder der Katastrophe in den Spendenshows zum billigen und beliebigen Material verkommen, das zu Videoclips bei den Auftritten von Sängern und Bands zusammengeschnitten wurde. Wenn etwas obszön war, dann war es dieses Potpourri aus Elends- und Schreckensbildern zu deutscher Popmusik. Das Fernsehen hatte spätestens hier die Katastrophe verarbeitet.


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