Trojanische Kamera

MEDIENTAGEBUCH Am Anfang stand das Gerücht. Am frühen Donnerstagabend hieß es, die am Mittag erfolgte Befreiung der Geiseln im luxemburgischen Wasserbillig sei dank ...

Am Anfang stand das Gerücht. Am frühen Donnerstagabend hieß es, die am Mittag erfolgte Befreiung der Geiseln im luxemburgischen Wasserbillig sei dank einer modernen Maskerade gelungen. Die Polizei habe sich als Fernsehteam dem zunehmend hysterisierten Geiselnehmer genähert und habe ihn mit einer zur Waffe umgebauten Kamera erschossen. Die Meldung ließ sich auf Anhieb nicht verifizieren. Im Videotext der Fernsehanstalten wie auf den Internetseiten der Nachrichtenagenturen stand nur, dass die Geiseln befreit worden wären, aber eben nicht wie. Später am Abend kam dann die Nachricht, der Geiselnehmer sei zwar lebensgefährlich verletzt, aber nicht getötet worden.

Das Gerücht nährte die Spekulation, die medientheoretische Annahme einer sich zur Identität verringernden Nähe von Kamera und Waffe sei gleichsam schießend in die Tat umgesetzt worden. Doch Zweifel blieben. Heute arbeiten Fernsehteams mit elektronischen Kameras, die sich nicht zu mechanischen Gewehren und Pistolen umbauen lassen, es sei denn man flanschte sie an einer Seite mittels Klebeband oder Magnet an. Zwei Tage später bewahrheitete sich zumindest, dass die Polizei den Geiselnehmer mit dem Fernsehinterview aus dem Haus lockten. Zuvor hatte sie eine Kameraausrüstung von einem Fernsehteam beschlagnahmt. Die tödlichen - von Scharfschützen aus sicherer Distanz abgegebenen - Schüsse fielen, als sich der Täter im Fernsehbild wähnte.

Zuvor war der Mann nur in einem RTL-Bild zu sehen gewesen, das man mühsam aus einer zittrigen Teleeinstellung des Fensters jenes Kindergartens, in dem der Mann die Geiseln festhielt, herausgelöst und am Grafikrechner vergrößert hatte. Vielleicht war es das Unbehagen an seiner mangelnden Fernsehpräsenz, das ihn unvorsichtig werden ließ. Die Aussicht, sich selbst, seine Tatmotive und seine Absichten im Fernsehen darzustellen, lenkte ihn von der Wirklichkeit ab, die er zuvor mit seinen Waffen und seiner Gewaltstrategie dominiert hatte.

Die Fernsehreporter und besonders jene, die zu Einsätzen wie diesem von ihren Redaktionsstäben gleich truppweise abkommandiert werden, erschütterte der Vorgang. Ab jetzt müssen sie sich in ähnlichen Situationen vergegenwärtigen, dass sie den Tätern als Teil der polizeilichen Maschinerie erscheinen könnten. Ihre journalistische Unabhängigkeit steht in Gefahr, nur noch Tarnmantel zu sein, unter dem sich die Polizei und - gefährlicher noch - eine tödliche Gefahr verbirgt.

Ein Journalist, der sich als Polizist ausgibt, wird wegen Amtsmissbrauch angezeigt. Zu Recht. Die Luxemburger Polizei wird ihr Vorgehen, sich die Funktion des Fernsehjournalisten anzumaßen, mit der situationsbedingten Nothilfe begründen: Die Lage im Kindergarten drohte zu eskalieren, der Täter schien zu allem fähig und die Gebäudelage so kompliziert, dass man den Mann vor die Türe locken musste. Zur Not mit einem Trick. Wenn auch einem bekannten. Im Krieg vor Troja bestand - so die mythologische Erzählung und Verklärung - der entscheidende Siegeskniff der Männer um Odysseus darin, dass sie den Trojanern ihren Abzug vorgaukelten und ihnen als Abschiedsgeschenk ein riesiges hölzernes Pferd zurückließen, das der Athene geweiht war. Neugierig wie beflissen, um ja nicht die Athene zu verärgern, zogen die Trojaner das monströse Objekt in die Stadt und ließen damit den hochgerüsteten Feind, der sich im Innern des Pferdes verbarg, in ihre unbesiegte Festung.

Die Fernsehanstalten, die sich über die polizeiliche Funktionsanmaßung beschweren, haben deshalb mit ihrer Kritik Recht. Und dennoch sollte man es ihnen nicht zu einfach machen. Die parallel seit Wochen sich hinziehende Geiselnahme auf der philippinischen Insel Jolo beweist, dass Journalisten stets in Gefahr stehen, während der Live-Berichterstattung von Verbrechen funktionalisiert zu werden. Sei es von den Tätern, denen sie im Bild opportunistisch nach dem Mund reden, um sie im Off-Ton heftigst zu kritisieren und zu schmähen. Sei es von den Opfern, die sie als Botschafter ihrer Bitten und Forderungen benutzen und ihnen - wenn hier einmal das Gerücht stimmen sollte - kräftige Honorare für Exklusivberichte abfordern. Kein Wunder, dass Journalisten gleich reihenweise von den Kidnappern und anderen Banden entführt wurden, als sie tumb durch den Dschungel stolperten. Erst nach drastischen Lösegeldzahlungen ließ man sie frei. Eine Art Zoll für den schnellsten Weg zur Story und zu den passenden Bildern.

Und so kann man den Trick der Luxemburger Polizei auch als eine Art Revanche betrachten. Sie requirierte eine der Kameras, die sie und ihre Arbeit beobachten wollte. Und bezog somit die sich unabhängig wähnenden Beobachter in die Szenerie mit ein. Darauf werden sich zukünftig alle Beteiligten einstellen. Jene Göttin Athene übrigens, der das hölzerne Pferd der Männer um Odysseus geweiht war, soll ihnen selbst den entscheidenden Rat gegeben haben. Sie war es auch, die Perseus einst ihr metallisches Schild schenkte, in dessen Spiegelbild dieser die Medusa, die alle sie leibhaftig Anblickenden in Stein verwandelte, so genau zu betrachten imstande war, dass er den tödlichen Hieb gegen sie zu führen vermochte. Siegfried Kracauer vergleicht in seiner Theorie des Films dieses Schild der Medusa mit der Kinoleinwand, auf der wir die Schrecken der Welt betrachten können, die uns im leibhaftigen Anblick versteinern ließen. Der Fernsehschirm ist unser Schutzschild, auf dem wir schrecklichen Ereignisse von den Tatorten der Welt in Ruhe betrachten. Nun wurde es ein weiteres Mal durchlöchert.

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