Gefragt vor einer Woche (in einem anderen Gesprächszusammenhang), wen ich denn zu den wichtigen Essayisten in Deutschland rechnete, erwähnte ich ihn nicht. Zu verstreut waren seine letzten Arbeiten erschienen - gelegentlich im Freitag veröffentlicht oder in der schweizerischen WochenZeitung -, als dass ich mich sofort an ihn erinnerte. Anders war das in den siebziger und achtziger Jahren. Lothar Baier, der sich wie selbstverständlich zwischen Belletristik, Literaturkritik, und politischem Journalismus bewegte, zählte damals nicht nur für mich zu den wichtigsten Autoren in der Bundesrepublik Deutschland.
Der 1942 in Karlsruhe geborene Autor hatte, nach einem geisteswissenschaftlichen Studium in Frankfurt am Main, zu schreiben begonnen. So war er 1964 Mitbegründer der Zeitschrift Text+Kritik, die alle Fährnisse gut überstanden hat und deshalb in diesem Jahr ihren 40. Geburtstag feiern kann. Sein besonderes Interesse galt den Französischen Zuständen (so der Titel eines seiner Bücher). Wer seine Berichte, die er aus Frankreich für deutsche Zeitschriften und den hiesigen Hörfunk verfasste, verfolgte, gewann ein komplexes Bild vom westlichen Nachbarland. Denn Baier misstraute dem Offensichtlichen, auch und besonders wenn dieses den eigenen Vorurteilen entgegenkam. Er trat zu seinen traditionell eher linken Lesern des öfteren in Distanz. Baier machte sich mit ihnen nicht gemein. So beschrieb er die Widersprüche von politischen Widerstandsbewegungen in Frankreich und Deutschland, mit denen er gewiss sympathisierte, wenn sie durch Umweltzerstörung oder durch neue Mittelstreckenraketen wieder einmal das Ende der Welt gekommen sahen.
Wer ihm und seinen Texten vertraute, selbst wenn sie einen verstörten, der wurde mit Erkenntnissen, Hinweisen und Fundstücken reich belohnt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Baier machte in Deutschland früh auf den Schriftsteller Paul Nizan aufmerksam, der als überzeugter Kommunist 1939 nach dem Hitler-Stalin-Pakt aus der KPF austritt und wenige Monate später während des Frankreich-Feldzugs der deutschen Wehrmacht getötet wird. Baier übersetzte Nizans Roman Die Verschwörung und hat ihm ein ebenso kluges wie anrührendes Nachwort beigefügt.
Den politischen Wechsel im Frankreich der frühen achtziger Jahre begrüßte er. Dennoch war er der erste, der die politischen wie wirtschaftlichen Kungeleien unter und mit Präsident Mitterand beschrieb und analysierte. Den Zynismus, mit dem sich einige seiner französischen Mitstreiter mit Mitterand und seiner Administration arrangierten, hat er akribisch festgehalten. Den Moden der Intellektuellenzirkel in Paris ist er so nie aufgesessen. Er hat Deleuze/Guattari für ihren Anti-Ödipus früh gerühmt, ohne später auf scharfe Kritik an Foucault und Kollegen zu verzichten.
Baier gehörte zu den ersten und besten Beiträgern der von Enzensberger gegründeten Zeitschrift TransAtlantik, aber er verließ das Projekt, als es in eine Richtung ging, die ihm politisch zu unbestimmt erschien. Später arbeitete er für die taz, für die er über den Barbie-Prozess berichtete, und er war auch für andere überregionale deutsche Tageszeitungen und für Rundfunkanstalten tätig. In den neunziger Jahren ging er in die Schweiz, um für die dortige linke WochenZeitung als Redakteur zu arbeiten. Aber auch dort hielt es ihn nicht lang.
Lothar Baier marschierte Zeit seines Lebens regelmäßig aus jeder Institution, in der er und für die er schrieb, wieder heraus. Wenn ihm etwas nicht passte, nahm er, der Gesellschaftskritiker, kein Blatt vor der Mund, scheute vor keiner internen Kritik zurück. Die Übereinstimmung von Form und Inhalt war ihm ebenso Pflicht wie die zwischen Anspruch und Verhalten. Dass ihn diese Haltung von ehemaligen Freunden und Mitstreitern entfremdete, davon zeugte schon früh der 1985 erschienene Roman Jahresfrist, in dem sich der Protagonist in eine ländliche Region Frankreichs zurückzieht und Zwiesprache mit "unseren wahren Vätern" hält, zu denen er neben Paul Nizan auch Walter Benjamin zählte.
Über die Tatsache, dass ihm sein Schreiben kein Leben in Luxus ermöglichte, grämte er sich nicht. Enttäuschter war er über den Rückgang an Resonanz, den er in den neunziger Jahren erlebte. Er wurde weniger gelesen und noch weniger gedruckt. Zwar bedingte das Letztere das Erstere mit, aber Baier war klug genug, um den Rückgang an Interesse nicht allein den Verlegern und Redakteuren anzulasten. Das Klima für radikalen Selbstzweifel hatte sich verflüchtigt. Planes Selbstbewusstsein und Siegermentalität bestimmten die gesellschaftliche Stimmung bis weit in die Linke hinein. Als die Euphorie abflaute, war Lothar Baier weitgehend verschwunden. Er hatte sich nach Kanada zurückgezogen, wo ihm endlich eine Professur zuteil wurde. In Deutschland publizierte er nur noch sehr selten. Am 11. Juli nahm sich Lothar Baier in Montreal das Leben.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.